„Bleib ruhig und lauf so schnell du kannst“

Unsere Rucksäcke stellen wir in Dona Juanitas Küche ab, ein heimeliger Ort, den wir während unserer 6 Tage in der unruhigen Hauptstadt Mexikos als ein Zuhause schätzen lernen. „Es tu casa- es ist dein Haus“, begrüßt uns die pfiffige 72-jährige herzlich. Das Terrain bewohnt sie seit dem 1. September 1971. Hunderttausend Menschen, die vor widrigen Lebensbedingungen flüchteten, fanden mit ihr eine Bleibe in der Steinwüste am damaligen Stadtrand.

An der größten Landbesetzung, die jemals in Lateinamerika stattfand, beteiligten sich Menschen aller Regionen. Das Viertel galt von Anbeginn an als Schmelztiegel indigener Kulturen. Die Regierung vergab die Landtitel moderat, eher heftig gestalteten sich Auseinandersetzungen untereinander, um das nachbarschaftliche Miteinander für die Kommune zu entwickeln. „Das strengte an und bleibt bis heute schwierig“, berichtet Dona Juanita, die engagiert an Bürgerversammlungen teilnimmt, z. B. um Stromerhöhungen auszubremsen oder für die gerechte Verteilung des Wassers zu kämpfen.

El Pedregal de Santo Domingo, Steinwüste heißt das Viertel. Ein halbes Jahrhundert später kennt es aufgrund der dichten Bebauung wiederum kaum Grünflächen.

Die sozialen Verwerfungen haben sich in den letzten Jahren verschärft. Vís a vis´ von Juanitas Haus dealen junge Männer. An den Wochenenden gebe es viele Betrunkene, warnt uns Juanitas Schwiegertochter Ericka. „Verlauft euch nicht. Anfangs hatte ich stets Angst, in einer der Sackgassen zu landen, überfallen zu werden.“

An einen Umzug ist aufgrund der hohen Bodenpreise nicht zu denken. Das Haus wurde entsprechend aufgestockt. Dona Juanita lebt in der Wohnküche, zwei Söhne mit ihren jeweils vierköpfigen Familien im ersten und zweiten Stock. Sohn Hector, von Beruf Soziologe betont die Wichtigkeit im Viertel zu bleiben, um nicht den Banden die Straße zu überlassen.

Auf einem Spaziergang durch das Viertel entdecken wir Schuhe, eulenspieglerisch in Stromkabel hoch über uns verknotet. Ein derber Jugendstreich?

Unsere Gastgeber eskortieren uns am ersten Tag auf Schritt und Tritt, als seien wir willkommenes Haifischfutter für korrupte Taxifahrer und Taschendiebe in der drängend engen Metro, wichtigstes Transportmittel für 22 Millionen Einwohner_innen. Selbst wenn die Kinder in spezielle Schulbusse steigen, reisen Familienangehörige mit- groß ist die Unsicherheit vor kriminellen Umtrieben, Entführungen und Erdstößen.

Das Leben mit den Beben: Die Westküste des amerikanischen Doppelkontinents gilt als hochgradig seismisch gefährdet ist. Zudem errichteten einst die Azteken ihre Hauptstadt Tenochtitlan, das heutige Mexiko auf einer ausgedehnten Seenplatte. Der sumpfige Untergrund löst verstärkt die Erdstöße aus.

Ein doppeltes Trauma: Am 19. September 1985 starben über 10 000 Menschen, eine viertel Million wurde obdachlos. Während der Gedenkfeiern im Jahre 2017 erzitterte die Erde am gleichen Tag erneut für eine Minute mit verheerenden Folgeschäden.

Seitdem nähmen die Bewohner_innen endlich die 1991 installierten Alarmsysteme und Katastrophenübungen ernst, erklärt uns Gastgeber Pedro. Der besorgte Familienvater arbeitet in einem Betrieb für seismische Alarmanlagen. Auch sein Privathaus verfügt über eine solche. „Wenn es piept, bleibt ruhig. Rennt vor die Tür. Ist es zu spät, kriecht unter den Tisch.“

Pedros und Paz` Kinder kennen die Anweisung. Manchmal bliebe kaum mehr als eine halbe Minute Zeit. Paz ergänzt, leider hätten sich Lehrerinnen bei der Evakuierung 2017 vollkommen überfordert gezeigt, vor den Kindern weinend, obgleich diese die Regeln kannten.

Schmiergelder machen es möglich, dass allenthalben auf gefährdeten Flächen Baugenehmigungen erteilt werden. Anwohnende und Umweltschützer_innen protestieren seit über 17 Jahren heftig gegen den bereits zu 20 Prozent fertiggestellten neuen Hauptstadtflughafen, für den der See Texcoco weichen musste.

Eine vom neuen Präsidenten AMLO initiierte Volksbefragung zum Flughafen im Oktober 2018 konnte die ökologische Katastrophe vorerst ausbremsen. Weitere Rechtsauseinandersetzungen stehen an.

Mexiko-Stadt wächst, dürstet, schwankt und wackelt. Grundwasserbohrungen destabilisieren den Boden, jahrausendalte Grundwasserspeicher werden angezapft, bis zu 400 Meter tief ins Erdreich. Planungen sehen Bohrungen bis zu 2000 Meter Tiefe vor. Der Boden weicht auf, Arsen und Fluorsalze vergiften das Grundwasser und gefährden die Gesundheit über die seismischen Bewegungen hinaus.

Die Stadt ist weltweit Spitzenreiter im Verbrauch von Wasser aus Plastikflaschen. Ganze Stadtviertel sind auf Tankfahrzeuge angewiesen, die teures Wasser von privaten Anbietern liefern.

Zudem ist die Verteilung des öffentlich zugänglichen Wassers ungerecht. Der  subventionierte Wasserpreis erlaubt den Reichen der Stadt die Verschwendung für Gärten und Schwimmingpools.

Prognosen zufolge kann die Stadt im Jahr 2030 nurmehr für die Hälfte der Bewohner Zugang zu Wasser garantieren. Schon jetzt fließen pro Sekunde 62000 Liter Wasser durch teils undichte Rohre. Dabei geht ein Drittel des kostbaren Wassers verloren.

Ein im Bau befindliches gigantisches Abwasser- und Klärwerkprojekt im Norden der Stadt soll Lösungen liefern.

https://www.ila-web.de/ausgaben/418/der-giftgürtel-ist-nur-ein-problem-von-vielen (aufgerufen am 17.11.2018)

Wir zittern – angesichts der Fakten, die uns ins Bewusstsein rücken, zugleich wegen der nächtlichen Kälte knapp über dem Gefrierpunkt. Die Hauptstadt liegt 2200 Meter über dem Meeresboden. Unsere Schuhe quatschen von den fortwährenden Regengüssen.

Eingepfercht in die Metro Linea 3 wärmen wir uns auf. Zurück in Santo Domingo, entzündet Juanitos humorvolle und warmherzige Großfamilie am Küchentisch unser Lachen.

Um 17:00 Uhr ziehen wir mit Dona Juanita zur Bürgerversammlung weiter. Heute geht es um das Menschenrecht auf die Energieversorgung und die Senkung des Strompreises. 2 Autos quergestellt versperren die Durchfahrt, flugs ist der Versammlungsraum für die ca. 80 Teilnehmenden parat.


Out of booking.com

In flirrender Hitze spuckt uns der Kleinbus aus. Um 12:00 Uhr am Mittag setzt uns der Fahrer vor einem Hotel in schrillem Rosa aus. Durch die Stadt mit dem merkwürdigen Namen Pinotepa Nacional führt die Drogenroute von Süden kommend. Wir zweifeln, dass wir uns hier wohlfühlen können. Schon beim Einstieg in den Bus vergewisserte sich der Fahrer mehrfach ob unseres Reiseziels. Gerne hätten wir am Vorabend in aller Ruhe eine Unterkunft reserviert. Die gängigen online- Buchungsportale scheinen die Stadt mit 50 000 Einwohnern zu meiden.

Während wir bei 35 Grad ohne Schatten unentschlossen auf dem Gehweg vor dem Bonbonhaus verharren, beschimpft uns wild gestikulierend ein vermutlich psychisch kranker Mann. Das ist unsere erste unangenehme Begegnung nach 3 Wochen mit wunderbar freundlichen Menschen in Mexiko.

Was wir hier suchen? Ebi entdeckte in der Zeitung die Ankündigung. Die Universidad de la Costa lädt zu einer Woche der afromexikanischen Kultur ein. Neben Workshops freuen wir uns auf Jorge Perez Solano, Regisseur und Drehbuchautor. Sein neuer Film La Negrada über schwierige Lebensbedingungen der Afromexikaner_innen wird im Drehort Pinotepa präsentiert.

Unsere Freude auf ein cineastisches Erlebnis steigert sich in der Erwartung, gemeinsam mit den Menschen, um die es geht, vor der Leinwand zu sitzen. Unwillkürlich denken wir an Edgar Reitz und seine Heimatfilme über den Hunsrück.

Schon eine Stunde später lauschen wir im klimatisierten Hörsaal einer Menschenrechtsaktivistin. Hilda Guillén Serrano präsentiert vor ca.250  in blau-weiße Schuluniformen gekleidete Student_innen ein Projekt. Das Erdbeben vom Februar 2018 hatte in den afromexikanischen Gemeinden nahe der Pazifikküste viele Häuser zerstört. Das Projekt sucht Zugang zu Frauen.

Mit Brennholz betriebene Holzöfen und Feuerstellen aus Stein sollen wiederaufgebaut werden. Sie gelten als zentrale Orte zur Ernährung der Familien, auch um über die Kochkunst die Kultur zu bewahren, identitätsstiftend zu wirken und Frauen gleichzeitig zu demokratischer Teilhabe zu befähigen. Resilienz ist ein Ziel. Traumatische Erfahrungen mit den Erdstößen wie mit den Beben durch häusliche Gewalt hemmen die Emanzipationsprozesse. „Bewegt euch, umarmt euch, hört euch zu und vor allem überwindet die Angst“ , ist das Credo der Referentin für einen ganzheitlichen Bildungsansatz.

Die Universidad de la Costa wirkt auf uns bei 35 Grad Außentemperatur wie eine Oase. Auf dem weitläufigen 2013 gegründeten Campus unter Bäumen studieren zurzeit 500 Student_innen Krankenpflege, Agroingenieurwissenschaften, Veterinärmedizin, Industriedesign und Betriebswirtschaft, betreut von 23 Dozent_innen.
http://www.uncos.edu.mx

Der akademische Vizedirektor Dr. José Hernández Hernández nimmt sich Zeit für unsere Fragen.

Die gebührenfreie Universität mit Präsenspflicht von 8:00 Uhr bis 19:00 Uhr bildet Fachkräfte der Region aus, deren Erstsprache mixteco, chatino  und amuzgo ist.

Die Hochschule schafft Räume für interkulturelle Begegnungen. Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft studieren gemeinsam an einer staatlichen Hochschule. Mit der afromexikanischen Woche entsteht ein Forum, das die kulturellen Besonderheiten, sozialen Lebensbedingungen und politischen Interessen der Bevölkerungsgruppe, im universitären Rahmen sichtbar macht. 1,3 Millionen, d.h. ein Prozent mexikanischen Bevölkerung sind Nachfahr_innen ehemaliger Sklaven, bis heute unter prekären Bedingungen lebend. Ihre Kultur wird auch von der mexikanischen Gesellschaft kaum wahrgenommen, geschweige denn wertgeschätzt.

Fern der Stadt Oaxaca, unmittelbar an der Grenze zum konfliktiven Bundesstaat Guerrero mit seiner Hauptstadt Acapulco gelegen, studieren hier gleichviele Männer wie Frauen. Seit es auf dem Land Universitäten gebe, seien die Studienabbrecherquoten auf 15 Prozent gesunken.

Dr. Hernandez zeigt sich überzeugt von seinem Konzept der engen Führung. Die jungen Menschen sollen sich nicht verlieren, sich anstrengen und für ihre gute Ausbildung Selbstverantwortung übernehmen. Der Einsatz werde beim späteren Berufseinstieg in den lokalen Arbeitsmarkt belohnt. Er gibt an, 90 Prozent fänden anschließend einen Arbeitsplatz. Junge Studentinnen, mit denen wir später auf dem Flur sprechen, zeigen sich skeptischer. Sind die Prognosen verfrüht? Die Universität ist jung, ein Studium der Veterinärmedizin erstreckt sich über 5 Jahre, die ersten Absolventen verlassen soeben die Hochschule.

Auf alle Fälle habe die Hochschule klare Regeln und einen guten Ruf, die positive Einstellung zur Arbeit zu fördern. Wer Drogen konsumiere, fliege sofort. Wer mehr als 15 Prozent Fehlzeiten aufweist, erhalte keinen Abschluss. Bei Fehlverhalten werde das Stipendium von 1700 mexikanischen Pesos (85 Euro) gekürzt, das fast allen Studierenden für Transportkosten und Unterhalt zusteht.

Dr. Hernandez, von Hause aus Ökonom, möchte in den kommenden 5 Jahren die Zahl der Studierenden und der Dozent_innen verdoppeln sowie die Kooperation mit den Betrieben intensivieren.

Der Dozent Felipe aus Kolumbien, seit 2 Monaten als Agraringenieur angestellt an der veterinärmedizinischen Fakultät, veranschaulicht Kooperationsmöglichkeiten an einem Beispiel. Die Campesinos leben von Tierzucht, sie verkaufen bereits die jungen Rinder, auch weil die trockenen Böden nur begrenzt Weideland bieten. Den eigentlichen Gewinn machten Viehhändler und Mastbetriebe im Norden. Forschung und Lehre suchen hier neue Wege für die lokale Landwirtschaft. Zugleich ist auch hier drängend, den illegalen Holzeinschlag zur Gewinnung von Weideland auszubremsen. In der Trockenzone fallen weniger als 800 mm Niederschläge jährlich bei steigender Tendenz.

Die Rinderzucht als Einkommensquelle- schon auf der Anreise nach Pinotepa Nacional sahen wir viele Herden auf Schneisen weiden, in den dichten Wald gerissene Wunden.

Wer sind die Dozent_innen, die laut Dr. Hernandez ein hartes Assessment durchlaufen? Auf die Lehrprobe folgt ein Interview, anschließend ein psychologischer Test. Arbeitssuchende promovierte Wissenschaftler aus ganz Mexiko und Nachbarländern bewerben sich- und die stete Herausforderung bleibt, sie mittelfristig in der Region zu halten. Auch darum hofft Dr. Hernandez, das akademische Niveau zu erhöhen und attraktive Forschungsstellen einzurichten.

Mit Interesse nimmt der Vizedirektor die https://blauemurmel.blog zur Kenntnis. Wir versprechen, ihm eine spanische Übersetzung unseres Berichtes über die Küstenuniversität und spüren seine Suche nach einem verstärkten internationalen Austausch. Es mangelt den Student_innen an englischen Sprachkenntnissen. Dozent_innen mit der Erstsprache Englisch zögen jedoch oft bereits nach einem Semester weiter.


Die Uhr ist auf 17:00 Uhr vorgerückt. Das Programm schließt mit Tänzen auf der Bühne des Auditoriums ab. Talentierte Musikgruppen begleiten den Fandango und trommeln zur afrikanisch geprägten Musik. „Baile director, baile, tanz “, johlen vergnügt die an Zehntklässler erinnernden Student_innen im Saal.

Am Ende werden Dr. Hernandez, aber auch wir quietschvergnügt auf die Bühne gezerrt. „La danza libera el alma“- der Tanz befreit die Seele. Was für ein schöner Ausklang .

Zurück in der Stadt Pinotepa Nacional, die in der Dunkelheit schon weniger öde und staubig wirkt. Trotzdem entdecken wir überproportional viele kleine Spielsalons.

Aber auch hier kommen wir mit vielen freundlichen und an uns interessierten Menschen ins Gespräch. In der Stadtbibliothek arbeitet ein ehemaliger Buchhändler ehrenamtlich. Seine Liebe zur Literatur gibt er an junge Menschen weiter. Er versteht sich als Sisyphus im digitalisierten Alltag und vermittelt uns den Eindruck, dass er sich nicht unterkriegen lässt. Die Stadt braucht viele Leuchttürme.

Pinotepa bedeutet übrigens auf nahuatl „in Richtung des bröckelnden Hügels“- nachdenklich ziehen wir weiter.

Totenkopf aus Marzipan

Bekannt ist, wie lebendig in Mexiko Allerseelen, der „Dia de los muertos“, gefeiert wird. Jetzt haben wir Gelegenheit, dies zu erleben.

Oaxaca ist schon Tage zuvor festlich geschmückt. Wir stoßen auf bunte Altäre an öffentlichen Plätzen wie in privaten Wohnungen. Vieles wirkt für uns bizarr und skurril: Totenköpfe und Särge aus Marzipan und Schokolade, bunt verzierte Schädel aus Zucker, Gerippe aus mandelbespicktem Backwerk und Puppen mit Totenmasken aus Pappmache.


Insbesondere die jungen Leute freuen sich auf die „Comparsa“, den großen Umzug, der eher einem Fastnachtsumzug in Mainz gleicht. Die Einheimischen, aber auch viele Touristen maskieren sich, eine laute Kapelle begleitet den Festumzug. Voran schreitet jeweils eine Person, die peitschenschwingend den Weg frei macht, den herandrängelnde Schaulustige oft versperren.


Rebecca und Cecilia, im Alter von Anfang 20 kündigen freudestrahlend an, dass der Umzug die ganze Nacht durchgehe und Anwohnende die tanzseligen Gruppen mit Essen und reichlich Mezcal versorgten, dem Agavenschnaps. „Ihr könnt gerne mitkommen, Taxis gibt es in der Nacht allerdings keine, falls ihr zuvor zurückkehren möchtet.“ Wir lehnen lieber ab.

„Akzeptiere es, du stirbst um zu leben!“ lautet das Leitmotiv der bunten und farbenfrohen Umzugsgesellschaft in diesem Jahr, der für uns doch etwas befremdlich klingt. Für die Mexikaner_innen hat das Spektakel nichts Makabres. Der Umzug, die bunt geschmückten Altäre, Masken und Kostüme wirken wie Ausdruck unbändiger Lebensfreude.

Gleichzeitig lebt das Fest auch von der Konvention. Ältere beklagen die Anstrengung. „Immer dieser Stress. In diesem Jahr muss ich zu fünf Familien, überall wird erwartet, dass ich mit den Toten esse. Wenn nicht, sind die Angehörigen sehr traurig, wirklich enttäuscht. Am Ende legen wir alle an Gewicht zu von der vielen Schokolade, dem kalorienreichen Essen“, erklärt uns eine Nachbarin.

Die Blume- in Deutschland als Tagetes bekannt – leuchtet orange. Sie schmückt die überbordenden Gräber und Altäre. „Tote können Farben sehen“, heißt es. „Früher wurden sie direkt am Haus, nahe bei den Angehörigen beerdigt wie die Nabelschnüre der Neugeborenen. Heute wissen wir, dass die Verstorbenen vom Friedhof in die Stadt zurückkommen und sich an den Farben erfreuen.“

Einen Höhepunkt bildet der Gang zum Friedhof, genannt Pantheon, mit Blumen, Kerzen, Tortilla, Totenbrot und den Lieblingsspeisen der Verstorbenen. Schließlich soll es den lieben Anverwandten in dieser Nacht an nichts fehlen. Auch Musiker stehen bereit, bedeutsame Lieder der Geehrten gegen ein kleines Entgelt erklingen zu lassen. Straßenkünstler stellen ihre Kunstwerke aus.

Während wir Europäer glauben, uns durch Arbeit, Geld und Hygiene vor dem Tod zu schützen, hat der Tod in der mexikanischen Gesellschaft eine gänzlich andere Bedeutung. Der Schriftsteller Octavio Paz schrieb dazu: „Wenn wir nachts eine Fiesta feiern, sind Leben und Tod eins. Der Tod ist, wenn er tiefgründig und vollkommen ist, auch ein Kult des Lebens. Beide sind untrennbar. Eine Kultur, die den Tod verleugnet, verleugnet auch das Leben.“

Das Totenfest hat im Süden Mexikos eine besondere Tradition. Es zeigt sich wild, bunt und anarchisch, wobei sich katholische Riten, Volksfrömmigkeit mit Halloween- Elementen, indigene Traditionspflege und eine zunehmende Kommerzialisierung vermischen.

Für uns ist es eine große Ehre, am Fest der Familie Castillo teilzuhaben. Wie immer wird viel gescherzt und gelacht- und da es in der Nacht heftig geregnet hat, wird das Picknick auf dem Friedhof am Grab des Vaters am Morgen nachgeholt.

Die Stadt Oaxaca in Bildern

 

Wo ist der Fernseher?

Wo ist der Fernseher? Hier nicht. Alfonso schlägt mit der Machete den Weg zum Wasserfall frei. Auf 2000 Meter Höhe wandern wir durch die dichte, urwaldähnliche Vegetation am glitschigen Hang. Die vierjährige Sofia springt wie ein Zicklein über die steilen, schmalen Pfade. Die Eltern geraten notgedrungen ins Schwitzen. Sie balancieren die kleine Schwester und einen Picknickrucksack auf den Schultern. So erhalten die Mädchen Umweltbildung von Anfang an.

30 km nördlich der Bundeshauptstadt Oaxaca liegt ein kleines Paradies der Biodiversität. Durch den Ecotourismuspark „Parque Ecoturistico Las Cieneguillas“ führt uns der Forstwirt Alfonso. Mit einem Lachen beschreibt er Schulklassen, die  vergeblich nach einem Fernseher und Wlan fragen.

Schautafeln zeigen Pumas, Rehe, den Jaguar, Wildschweine, Stinktiere und andere Bewohner des Berges. Dauergäste haben vielleicht eine Chance, den Tieren zu begegnen. Zwei Hütten beherbergen die Übernachtungsgäste. An die Eröffnung eines Campingplatzes wird gedacht. Alfonso hofft auf staatliche Förderung für den weiteren sanften Ausbau des Terrains. Denn Las Cieneguillas bietet den Städtern aus Oaxaca und nationalen wie internationalen Touristen eine grüne Lunge bei freiem Eintritt. Allerdings müssen sich die Besucherzahlen in Grenzen halten, um das ökologische Gleichgewicht nicht zu stören.

Die Kommunen San Gabriel Guelache und San Miguel, Etla stemmen das Projekt seit 10 Jahren aus Eigenmitteln, indem die Menschen „“Tequio“ leisten, unentgeltliche Arbeit für die Gemeinschaft, z. B. für die nachhaltige Holzwirtschaft, den Restaurantbetrieb, geführte Wanderungen, Mountainbike- und Bootstouren auf dem kleinen See. Durch die Selbstorganisation der Kommunen finden viele Menschen ein Einkommen. Und der Zusammenhalt wehrt die organisierte Kriminalität der Drogenkartelle ab.

Alfonso arbeitet hier an Wochenenden unentgeltlich. Nach seinem  5-jährigen Studium fand er bislang keine Festanstellung – „Mir fehlen die nötigen Kontakte, Stellen vergibt man oft über Beziehungen“, gibt er achselzuckend preis. So schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch und führt im Rahmen des Freiwilligendienstes sachkundig die Besucher durch den grünen Pelz mit Kopf, Herz und einer konkreten Vision. Er karthografiert, um Wege zu markieren und dem Wandertourismus Schwung zu geben.

Mexiko in Licht…  

In den Bergen rund um die Stadt Oaxaca bieten weitere Kommunen vergleichbare Ökotourismuskonzepte an. Laut Experten verfügt Mexiko über eine umfassende Umweltgesetzgebung und Strategien zum Umweltschutz sowie umfangreiche Projekte der Wiederaufforstung.  68 Nationalparks und 37 Biosphärenreservate sind ausgewiesen.

…und Schatten

Die Umweltzerstörung schreitet ungebremst voran. Laut einer Studie der Heinrich-Böll- Stiftung von 2017 steht Mexiko weltweit an erster Stelle beim Artensterben. Etwa 600 000  ha Wald und Urwaldfläche gehen jährlich verloren. Aktuell sind noch 17  Prozent des Landes bewaldet, vor 100 Jahren war es noch die Hälfte. Quelle: https://www.boell.de/de/2017/06/30/mexiko-wirtschaftswachstum-versus-menschenrechtskrise-im-schatten-der-usa-unter-trump (aufgerufen am 06.11.2018)

So brennt auch im Bundesstaat Oaxaca an vielen Orten das Problem des illegalen Holzeinschlages. Nachts kurven überladene Holztransporter ohne Licht überland. Gegenwehr zeigt sich, sie kann tödlich sein. Eine indigene Umweltaktivistin wurde am 17. Januar 2018 in  Michoacán ermordet. Der Nationale Indigene Rat (CHI) fordert, den Zusammenhang zwischen ihrer Ermordung und ihren Umweltaktivitäten zu untersuchen. In ihrer Gemeinde Cherán wurden bereits 20 000 von 27 000 ha Wald verwüstet.

Sind Ökotourismusprojekte kleine oder keine Tropfen auf heiße Steine? Die blaue Murmel rollt weiter – für den Klima- und Umweltschutz demnächst an den Pazifik.

Die Welt hinter der Kurve

Zügig steuert Franziskanerpater Antonio die Camioneta durch die Serpentinen. Die angekündigten 1350 Kurven waren nicht scherzhaft gemeint. Wir meiden den Blick in den Abgrund und genießen die sattgrüne Gebirgslandschaft.

Der Tag wird anstrengend. Von der Stadt Oaxaca aus braucht es 5 Stunden bis zur Kommune San Jose in der Sierra Madre del Sur. Unterwegs führt die vor Kurzem geteerte Straße nur durch wenige Dörfer. Frauen und Kinder hüten Ziegen am Straßenrand. Nach 200 Kilometern durch die üppige Vegetation erreichen wir unser Ziel: Ein Rohbau.

Unterhalb des magischen Cerro Niebla (Nebelberg) mit seiner steten Wolkenmütze soll im August 2019 eine Schule eröffnet werden. Angegliedert ist ein Internat.

Mit Dynamit muss der Fels gesprengt werden, um das Terrain am steilen Hang zu ebnen. Schon für den Fußweg zum Franziskanerkloster braucht es 3 Stunden bei guter Kondition für Auf- und Abstiege und die Querung des Flusses per Hängebrücke. Eine Betonbrücke wurde bei einem Erdbeben vor 2 Jahren zerstört. Hurrikane treffen die Region ebenfalls. Den nahen Pazifik erahnen wir hinter der Bergkette.

100 Schülerinnen und Schüler sollen nach Abschluss der Sekundarschule ein dreijähriges berufliches Gymnasium für Kunst, Handwerk, Handel und Landwirtschaft besuchen. Der projektorientierte Unterricht folgt den staatlichen Lehrplänen bis hin zum Abitur und ergänzt gleichzeitig das Schulangebot um ein Reformjuwel- eine in der Region verankerte und vernetzte Schule, die Interkulturalität groß schreibt, zu einem selbstbestimmten Leben befähigen will, Wege aus der Armut aufzeigt und die gleichberechtigte Teilhabe an der Moderne ermöglichen soll, in Vergewisserung der eigenen kulturellen Wurzeln.

In den umliegenden 48 indigenen Gemeinden leben ca. 20 000 Menschen, überwiegend aus dem Volk der Chatinen, vereinzelt auch Zapoteken und Mixteken. Das weiterführende Schulangebot soll junge Menschen in einer Region halten, die stark von Abwanderung betroffen ist. Viele Familien sind oder fühlen sich von Rücküberweisungen aus den USA abhängig. Ein steigender Konsum an synthetischen Drogen wie z. B. Chrystal Meth, Alkoholismus, Männlichkeitswahn und familiäre Gewalt sind neben der Selbst- und Fremdausgrenzung ihrer indigenen Kultur die Begleitphänomene. Während Ältere chatin sprechen und sich kaum spanisch verständigen können (wollen?), produzieren die Jungen eine Mischsprache. Indigene Mythen koexistieren neben der katholischen Volksfrömmigkeit und den Sehnsüchten des 21. Jahrhunderts.

Die als Begegnungsort geplante Schule öffnet die Türen für Künstler_innen, Handwerker_innen und Campesinos als Lehrkräfte für den theoretischen und praktischen Unterricht. Der Austausch der indigenen Kulturen untereinander soll gefördert werden, gleichzeitig sind Lehrkräfte aus anderen Regionen Mexikos wie Freiwillige aus aller Welt willkommen, um das indigene Leben  mit den schwierigen Bedingungen kennenzulernen, zu teilen und einen interkulturellen Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Lässt sich so das Denken entkolonialisieren? Wir sind beeindruckt, wie unser Freund Alejandro Castillo über das Schulprojekt konsequent seine Mainzer Dissertation in Praxis umsetzt. Sein Engagement gilt der Autonomie der Indigenen. Der franziskanische Konvent in Oaxaca unterstützt das Projekt. Noch reichen die Lernausgangsvoraussetzungen in San Jose nicht, um gleich die Universität zu gründen.

Die Franziskaner finanzieren den Anschub, weitere Geldtöpfe sind zu öffnen, selbst wenn die Schule die Selbstversorgung in der Ernährung und der Energieversorgung anstrebt. Eltern, die das symbolisch geringe Schulgeld nicht tragen können, sind gebeten, sich zum Beispiel im Garten der Schule einzubringen. Neben den Baukosten für erdbebensichere Räume mit Sportgelände und Amphitheater sind Personal- und Sachkosten zu stemmen, u.a. für Solarpanele, Computer, Bücher über Pädagogik und Kunst, Wohnräume für die Lehrkräfte. Auch hier besteht Hoffnung auf den Regierungswechsel zu AMLO am 01.12.2018, auf die geplante Erziehungsreform und  finanzielle Zuwendung nicht für „die Armen, sondern die, die in die Armut gezwungen wurden“, korrigiert uns Projektkoordinator Alejandro.

Zum Mittagessen sind wir bei Franziskanerpater Ephraim eingeladen. Vor einem Jahr aus Rio de Janeiro kommend, von Beruf Krankenpfleger, Theologe und Psychologe lebt Fraile Ephraim mit anderen Franziskanermönchen als Seelsorger in der Sierra. Er steht in Verantwortung für das Gelingen des Schulprojektes und im Kontakt mit den Menschen der Gemeinde. Die Stille fasziniert ihn ebenso wie der gigantische Sternenhimmel. Die Stadt fehlt ihm nicht.

Wir löchern. Wie steht es um die Akzeptanz des Projektes vor Ort? Ist die Partizipation erwartbar? Wer sind die Bündnispartner und Multiplikatoren, die den emanzipatorischen Prozess unterstützen? Lassen sich trotz des starken Machismo die Frauen gewinnen? Sind es zunächst überwiegend Einzelpersonen? Sind die politisch Verantwortlichen der indigenen Strukturen bereits im Boot? Was ist zu tun, damit die Schule keine Idee bleibt, die von außen kommt?

Gekontert wird mit über 500 Jahren Erfahrung, befreiungstheologischen Ansätzen aus dem 16. Jahrhundert, der Verwurzelung in der Region. Fraile Antonio hat über 11 Jahre in der Sierra Madre del Sur gelebt und moderiert die Prozesse. Auch andern Ortes in Lateinamerika gelang es, erfolgreiche indigene Universitäten zu gründen. Das Rad wird nicht neu erfunden. Wir verabschieden uns von Fraile Ephraim mit allem Respekt für das engagierte und mutige Projekt und legen uns für die Rückfahrt erneut in die Kurve.

Aus dem MP3-Player von Fraile Antonios erklingen die Brandenburgischen Konzerte, das Abendlicht entspannt. Die Camioneta fliegt über den weitgehend intakten Asphalt.

Die Welt hinter der Kurve- hinter jeder Drehung entdecken wir eine neue Facette des bunten Mexiko.

Sofia, Camila und die Straßenkinder

Oaxaca, 27.Oktober 2018. Im Gemeindezentrum der Franziskaner versammeln sich über 80 Menschen, die aus Mexiko-Stadt, dem Umland von Oaxaca und wie wir aus Deutschland angereist sind. Die fröhliche Feier beginnt mit dem zapotekischen Brauch, Menschen mit der Erde zu verwurzeln, indem die Paten und Patinnen, begleitet durch die Hebamme die Nabelschnüre vergraben.

Rund um den improvisierten Altar warten 2 Ceiba- Bäumchen als symbolische Heimstatt für die vierjährige Sofia und Camila, kurz vor ihrem zweiten Geburtstag.

Die Hebamme Yolanda hat ihr Wissen und ihr Handwerk von ihren Großmüttern erlernt. In ihrer Gemeinde, eine halbe Stunde von Oaxaca entfernt, begleitet sie Frauen bei Hausgeburten sowie während der Entbindung in Krankenhäusern der Stadt, wenn die Gynäkologen dies zulassen.

„Lebt eure Bräuche, vergesst nicht eure Geschichte inmitten der schwierigen Zeiten des Neoliberalismus“ appelliert sie an die Teilnehmenden.

Während wir den qualmenden Copal mit katholischem Weihrauch verbinden und uns der mit Tortilla, Amaranth, Mezcal, Bohnen, Kaffee, Mais, Schokolade und Blumen gedeckte Altar an das Erntedankfest erinnert, ist die Pirouette für uns neu. Wir drehen uns einmal um 360 Grad im Kreis, um uns bewusst den  Himmelsrichtungen zuzuwenden, der Sonne im Osten als Lebensspenderin, den Winden des Westens, dem Norden als dem Reich der Toten und zuletzt dem Süden, der mit der Saat und der Ernte verbunden wird.

Später höre ich von indigenen Frauen in Mexiko, die ein Stück der Placenta essen oder die getrocknete Nabelschnur in die Bäume hängen, damit sie mit den Vögeln den Himmel erreichen. Unser Erdendasein gilt nur als kleine Etappe.

Mit den Eltern Brenda und Alejandro teilen wir alle Freude und die vielen guten Wünsche für ihre Mädchen. Und himmlisch- ja wunderbar ist allemal das Fest! Bei üppigem Essen, reichlich Mezcal, der Blasmusikkapelle aus Sinaloa, der tanzenden Festgemeinschaft von Jung und Alt und spannenden Gesprächen haben wir uns bis in die frühen Morgenstunden vergnügt.

Für das große Fest unserer Gastgeber gibt es einen zweiten Anlass – die Taufe der kleine Sofia. Noch müssen die in Schokolade gekochten pikanten Hühnchen a la Mole auf uns warten.

Die Taufgäste, darunter viele Weggefährten aus den christlichen Basisgemeinden beschäftigt vor allem die Situation der Straßenkinder. Viele Freund/-innen und Familienangehörige von Brenda und Alejandro arbeiten ehrenamtlich mit den Familien der Müllsammler in der Hauptstadt wie im Bundesstaat Oaxaca, um die Menschen bei der Suche nach einem würdigen Leben zu unterstützen. Mercedes Sosas Lied von den Ninos der Calle erklingt. Die Gäste sind gebeten, für Straßenkinderprojekte zu spenden und erhalten ein Erinnerungsfoto an den ermordeten Erzbischof Oscar Romero aus El Salvador am Ausgang.

Sofias Eintritt in die christliche Gemeinschaft ist gewiss mit der Hoffnung verknüpft, eine Mitstreiterin für das gute Leben aller zu gewinnen. Sie brüllt- längst eingeschlafen in der langen Zeremonie- und nun erschreckt vom Taufwasser.

Maya für Anfänger_innen

Vorspanisch. Präkolumbin. Mit zwei holprigen Adjektiven ist der zerfledderte Reiseführer in unserem Gepäck bemüht, sich den 3000 Jahren der Hochkultur anzunähern. Ausgrabungen bezeugen, dass die Maya bereits 1000 vor Chr. in Südmexiko und Guatemala lebten. Und auf der Halbinsel Yucatán lernen noch heute 30 Prozent der Bevölkerung Maya als erste Sprache in den Familien. Vorspanisch. Präkolumbin. Dabei wird die Geschichte mit der europäischen Brille gelesen- Kolumbus klingt beinah harmlos.

Im 16. Jahrhundert begann der Genozid. Spanische Waffen, die Versklavung, die katholische Zwangsmissionierung und eingeschleppte Krankheiten dezimierten die Bevölkerung drastisch. Insgesamt fielen in Lateinamerika geschätzt 80 bis 85 Prozent der Menschen dem Völkermord zum Opfer. Zugleich wurden die meisten schriftlichen Zeugnisse auf Stein und Papier ausgelöscht.

Diego de Landa, katholischer Bischof von Yucatán glaubte, Unchristliches vernichten zu müssen. Damit verstummte die hochentwickelte Schriftkultur der Maya ebenso wie mündliche Überlieferungen. Was von den Texten auf Papier blieb, riecht nach europäischem Raubgut. Einzig 3 Bücher sind erhalten und in Paris, Madrid und Dresden archiviert. Bekannt ist der Popul Vuh, die Schöpfungsgeschichte der Maya. Die Götter formten die Menschen aus Mais, unterschiedliche Körner verantworten das Diversity der Hautfarben.

Somit geben die Steine in den Ausgrabungsstätten den Archäologen viele Rätsel auf. Entschlüsselt wurde der astronomisch ausgefeilte Kalender, der 360 Tagein 18 Monaten kennt. Architektonisch spielten die Baumeister der Tempel mit dem Sonnenkalender. In der Verbindung zwischen Himmel und Erde kommt der Sonne als Spenderin von Licht und Leben eine besondere Bedeutung zu. In Chichèn Itzá finden sich Reste eines kuppelartigen Observatoriums.

Schirmchen

Während die Ruinenstätten Palenque, Tulum und Chichén Itzáa zum Weltkulturerbe erhoben wurden, sind viele Maya der Gegenwart marginalisiert, von Armut bedroht. Die Bundesstaaten Yucatán und Campeche zählen zu den ärmsten Mexikos. Die Kinder der indigenen Landbevölkerung sind besonders verwundbar und ethnischer Diskriminierung ausgesetzt.

Im Curriculum der Schulen bleibt Maya ausgespart. Die Abwanderung in die Städte, in der mittlerweile 60 Prozent der Maya leben sowie die Migration in die USA beschleunigen den Verlust der Identität.
In den Gefängnissen Mexikos warten viele Indigene seit Jahren auf ihren Gerichtsprozess. Die Anklage steht im Zusammenhang mit Landkonflikten. Obwohl die Revolutionsverfassung von 1917 im Artikel den Bauern das Recht auf Kommunaleigentum zuerkennt- warten viele indigene
Gemeinden bis heute auf die Landzuteilung.

Mayamuseum Merida

Nur vor Wahlen und infolge von Protestaktionen wie z. B. im Bundesstaat Chiapas zu Beginn der 90-ziger Jahre zeigen Politiker ein angemessenes Interesse an den indigenen Belangen. Beeindruckt laufen wir durch das Gran Museo de Maya, das 2012 in Mèrida eröffnet wurde. Die Geschichte wird hier von der Gegenwart ausgehend rückwärts aufgerollt, didaktisch ausgefeilt, mit interaktiven Medien, dreisprachigen Erklärungen und wertvollen archäologischen Funden aus dem Alltag und dem künstlerischen Schaffen. Ein Volk in der Vitrine?

Wir fragen uns, ob es um es die Zurschaustellung der Lebensweise geht sowie um touristische Anziehungspunkte – oder ist ein schrittweiser Wandel in Politik und Gesellschaft gegenüber den Maya als anzuerkennende Minderheit erkennbar?

Der designierte Präsident AMLO kündigt Befragungen und Abstimmungen an, um bereits in der Verfassung verankerte Rechte der Indigenen unter ihrer Beteiligung ab Dezember 2018 umzusetzen. Wird ihnen zukünftig in Konflikten rund um Rohstoffabbau, Wasserprivatisierung, Staudammbau und touristische Großprojekte Selbstbestimmung oder wenigstens ein Vetorecht zugestanden?

Otoch Ma´ax Yetel Kooh

Schnurgerade verläuft die schmale Schneise durch den Regenwald. Die einstige Verkehrsader zwischen den Maya- Niederlassungen von Cobá und Chichén Itzá ist geteert und wenig befahren. Eigentlich eine ideale Fahrradstrecke, schon in 20 km haben wir das Naturreservat mit dem Taxi erreicht. Öffentliche Verkehrsmittel fahren die gering besiedelte Gegend nicht an.

Seit 2002 verwaltet eine Kooperative der Mayas das 5000 ha große Gebiet. 23 Familien teilen sich die Einnahmen. Durch das „Haus der Spinnenaffen und des Jaguars“ (Otoch Ma´ax Yetel Kooh) führt uns der achtzehnjährige Luis aus dem Dorf, um uns die Tier- und Pflanzenwelt zu erläutern, aber auch Traditionen der Maya näher zu bringen.

Flinke Spinnenaffen flitzen über die hohen Baumwipfel und halten zu den Menschen gehörig Abstand. Die Population wächst. Die Affen erreichen ein Lebensalter von bis zu 25 Jahren und ernähren sich ausschließlich vegetarisch von Früchten. Über ihre Feinde erfahren wir nichts, bei den frühen Maya standen sie noch auf der Speisekarte. Heute trägt jeder der Affen einen Eigennamen, die Tierforschenden bei der Unterscheidung helfen.

Wunderbar ist es, durch den dichten grünen Wald zu laufen, die hohen Bäume zu bestaunen. Manche sind durch die zahlreichen Hurrikans in der Region in die Quere gekommen. Der Hurrikan Vilma im Herbst 2005 ist in schrecklicher Erinnerung geblieben. Der Klimawandel hat ohnehin die Regen- und Trockenzeiten auf Yucatán verrückt. Regnete es im Oktober 2018 bislang nur wenig, fiel in vergangenen Trockenzeiten plötzlich das Nass vom Himmel. Die Pflanzen zeigen sich in ihrem Biorhythmus irritiert, Früchte reifen zu ungewöhnlichen Zeiten.

Das kleine Paradies des sanften Tourismus an der Punta Laguna gelegen kämpft. Seit vier Jahren versucht ein Investor, das Terrain aufzukaufen, um einen großen Hotelkomplex am See zu errichten. Den Menschen, die seit Generationen hier leben, ringen um Rechtsansprüche. Das Katastersystem funktioniert
nicht. Der juristische Streit bürdet der Kooperative hohe Kosten auf.

Über dem Frieden liegt Spannung. Nur die Kaimane im See schlafen ahnungslos am Tag. Auf Luis Vorschlag, ein Bad zu nehmen, gehen wir
lieber nicht ein.

Auf dem Rückweg streifen wir durch eine Maya- Siedlung. Eintritt wird nicht erhoben, Trinkgeld ist willkommen. Wir spenden gerne für den ethnologischen Crash-Kurs. Ein Garten voller Heilpflanzen, Kunsthandwerkliches, selbstgebaute Musikinstrumente, ein Maya-Altar im Außenbereich sowie zum Kontrast Insignien des praktizierten Katholizismus breiten sich vor uns aus.

Man lädt uns in ein Wohnhaus mit Palmdach zum Imbiss ein. Drinnen lodert ein Holzfeuer, der aufsteigende Ruß stabilisiere das Dach und wehre Schlangen, Insekten und Ungeziefer ab. Die angepasste traditionelle Bauweise sei absolut vorausschauend und jedem Steinhaus überlegen. Luftdurchlässige Ritzen an den Seitenwänden sichern die Holzhütten während der Tropenstürme.

Unser Versuch scheitert, mit den Frauen ins Gespräch gekommen. Angeblich sprechen alle nur Maya. Mit gesenktem Blick formt eine junge Köchin für uns den Teig. Nur zufällig erfahren wir, dass sie im Frauenfußball einen Pokal  gewonnen hat. Ihr pikanter Taco schmeckt köstlich.

Auf der Zunge brennt die Frage, wie sich die Melange der freundlichen und engagierten Kulturvermittlung zu den wirtschaftlichen Zielen der Bewohner verhält. Wie leben die Menschen wohl nach Feierabend, sobald die Touristenbusse das Weite gesucht haben?

Cancun in 24 Stunden

Er habe nichts gesehen, erläutert der Pilot im Cockpit den verschreckten Passagieren. Ein tropischer Regenguss zwingt ihn durchzustarten, noch hat die Boeing 767 die Landebahn nicht touchiert. Zehn Minuten später bezeugen Wasserlachen das vorangegangene Naturschauspiel, als wir in der Nachmittagssonne erleichtert das Flugzeug verlassen. Auch biographisch proben wir einen zweiten Landeversuch im Wiedersehen mit Mexiko. Zumindest sprachlich navigieren wir sanfter als 35 Jahre zuvor.


Der unterkühlte Flughafenbus befördert uns in das 20km entfernte Stadtzentrum von Cancun. Unterdessen sind wir hilflos einer ohrenbetäubenden Videoanimation ausgesetzt, ein Lehrfilm- wie verhältst du dich idealerweise, wenn ein Meteorit auf die Erde knallt? Der Film konditioniert zum Fluchtverhalten. Ach Mexiko, was brauchst du wirklich, wenn amerikanische Präsidenten wie Drogenkartelle böse Steine ins Rollen bringen?

Das einst beschauliches Fischerdorf Cancun ist binnen von 50 Jahren zum Tourismus-Hotspot mutiert. Traumstände der Karibik, unterirdische Süßwasserbecken, im sattgrünen Regenwald versteckte imposante Maya-Tempel und nicht zuletzt die Nähe zu USA und Kanada haben Investoren angelockt. Scheinbar mit zu großem Erfolg. Allein zwischen Januar und August 2018 sind über 3 Millionen US-Bürger gen Cancun geflogen, jenseits der Hotelzone leben gerade mal 60.000 Menschen. An der Ostküste der Halbinsel Yucatan alias Riviera Maya klotzen die Pyramiden des 21. Jahrhunderts, mehrstöckige Hotelanlagen der Luxusklasse versperren freie Zugänge zum Strand.


Urlaubsangebote im Superlativ, neuerdings stehen Funsportarten stärker als die Hochkultur der Maya im Kurs. Solventen Dollartouristen verspricht man, mit Delfinen und freundlichen Haien zu schwimmen. In unserem Hostal und in der Gastronomie arbeiten Migranten aus dem mexikanischen Binnenland und aller Welt. Dynamische Verdrängungswettbewerbe allenthalben- 8000! Taxifahrer in Cancun fürchten digitale Portale wie Uber, die aggressiv auf den Markt drängen.

Allzu vertraute Bilder: Die Zunft der Schuhputzer, männlich, beiderlei Geschlechts die ambulanten Kaugummiverkäufer/-innen mit Bauchladen, die junge Frau in indigener Tracht, die abends durch die Restaurants streift und mit traurigen Augen bunte Schmuckarmbändchen verkauft, ein Dreijähriges stapft tapfer an ihrer Seite mit. Menschen, die in öffentlichen Bussen in flammenden Ansprachen über ihre prekäre Lage informieren, mal moralin, mal religiös oder sozialpolitisch konnotiert, um ein Zubrot bitten. Auch in deutschen Städten haben wir uns mittlerweile längst an die Menschen auf der Straße gewöhnt, für die es kein soziales Netz zu geben scheint, die hart um gesellschaftliche Teilhabe kämpfen. Gewiss, die Beschäftigungsformen variieren und Kinderarmut in Deutschland ist nicht direkt sichtbar.

Ach so vertraut, kaum angekommen fühlen wir uns zuhause – nehmen ein spanisches Sprachbad, saugen die knallig bunten Farben auf, ertragen gelassen den steten Schweißfilm auf der Haut, die fetzige Musik rund um die Uhr. Wir erfreuen uns am warmherzigen Humor der Gesprächspartner/-innen, schmunzeln im Urlaubsmodus, wenn die Uhren anders gehen und genießen das Licht, die üppige Natur, den Sonnenaufgang, die chilischarfen Enchilladas, Tacos aus den Garküchen, Ananas, Papaya, Mangos, die uns an den Straßenständen anlachen. Wir quetschen uns gelassen in überfüllte colectivo-Busse, die uns flugs und preiswert zu den Ruinen bugsieren. Der Tag beginnt mit der Suche nach einem Zeitungskiosk, um zu verstehen, was Mexiko im Monat vor dem Regierungswechsel bewegt.