Unsere Rucksäcke stellen wir in Dona Juanitas Küche ab, ein heimeliger Ort, den wir während unserer 6 Tage in der unruhigen Hauptstadt Mexikos als ein Zuhause schätzen lernen. „Es tu casa- es ist dein Haus“, begrüßt uns die pfiffige 72-jährige herzlich. Das Terrain bewohnt sie seit dem 1. September 1971. Hunderttausend Menschen, die vor widrigen Lebensbedingungen flüchteten, fanden mit ihr eine Bleibe in der Steinwüste am damaligen Stadtrand.
An der größten Landbesetzung, die jemals in Lateinamerika stattfand, beteiligten sich Menschen aller Regionen. Das Viertel galt von Anbeginn an als Schmelztiegel indigener Kulturen. Die Regierung vergab die Landtitel moderat, eher heftig gestalteten sich Auseinandersetzungen untereinander, um das nachbarschaftliche Miteinander für die Kommune zu entwickeln. „Das strengte an und bleibt bis heute schwierig“, berichtet Dona Juanita, die engagiert an Bürgerversammlungen teilnimmt, z. B. um Stromerhöhungen auszubremsen oder für die gerechte Verteilung des Wassers zu kämpfen.
El Pedregal de Santo Domingo, Steinwüste heißt das Viertel. Ein halbes Jahrhundert später kennt es aufgrund der dichten Bebauung wiederum kaum Grünflächen.
Die sozialen Verwerfungen haben sich in den letzten Jahren verschärft. Vís a vis´ von Juanitas Haus dealen junge Männer. An den Wochenenden gebe es viele Betrunkene, warnt uns Juanitas Schwiegertochter Ericka. „Verlauft euch nicht. Anfangs hatte ich stets Angst, in einer der Sackgassen zu landen, überfallen zu werden.“
An einen Umzug ist aufgrund der hohen Bodenpreise nicht zu denken. Das Haus wurde entsprechend aufgestockt. Dona Juanita lebt in der Wohnküche, zwei Söhne mit ihren jeweils vierköpfigen Familien im ersten und zweiten Stock. Sohn Hector, von Beruf Soziologe betont die Wichtigkeit im Viertel zu bleiben, um nicht den Banden die Straße zu überlassen.
Auf einem Spaziergang durch das Viertel entdecken wir Schuhe, eulenspieglerisch in Stromkabel hoch über uns verknotet. Ein derber Jugendstreich?
Unsere Gastgeber eskortieren uns am ersten Tag auf Schritt und Tritt, als seien wir willkommenes Haifischfutter für korrupte Taxifahrer und Taschendiebe in der drängend engen Metro, wichtigstes Transportmittel für 22 Millionen Einwohner_innen. Selbst wenn die Kinder in spezielle Schulbusse steigen, reisen Familienangehörige mit- groß ist die Unsicherheit vor kriminellen Umtrieben, Entführungen und Erdstößen.
Das Leben mit den Beben: Die Westküste des amerikanischen Doppelkontinents gilt als hochgradig seismisch gefährdet ist. Zudem errichteten einst die Azteken ihre Hauptstadt Tenochtitlan, das heutige Mexiko auf einer ausgedehnten Seenplatte. Der sumpfige Untergrund löst verstärkt die Erdstöße aus.
Ein doppeltes Trauma: Am 19. September 1985 starben über 10 000 Menschen, eine viertel Million wurde obdachlos. Während der Gedenkfeiern im Jahre 2017 erzitterte die Erde am gleichen Tag erneut für eine Minute mit verheerenden Folgeschäden.
Seitdem nähmen die Bewohner_innen endlich die 1991 installierten Alarmsysteme und Katastrophenübungen ernst, erklärt uns Gastgeber Pedro. Der besorgte Familienvater arbeitet in einem Betrieb für seismische Alarmanlagen. Auch sein Privathaus verfügt über eine solche. „Wenn es piept, bleibt ruhig. Rennt vor die Tür. Ist es zu spät, kriecht unter den Tisch.“
Pedros und Paz` Kinder kennen die Anweisung. Manchmal bliebe kaum mehr als eine halbe Minute Zeit. Paz ergänzt, leider hätten sich Lehrerinnen bei der Evakuierung 2017 vollkommen überfordert gezeigt, vor den Kindern weinend, obgleich diese die Regeln kannten.
Schmiergelder machen es möglich, dass allenthalben auf gefährdeten Flächen Baugenehmigungen erteilt werden. Anwohnende und Umweltschützer_innen protestieren seit über 17 Jahren heftig gegen den bereits zu 20 Prozent fertiggestellten neuen Hauptstadtflughafen, für den der See Texcoco weichen musste.
Eine vom neuen Präsidenten AMLO initiierte Volksbefragung zum Flughafen im Oktober 2018 konnte die ökologische Katastrophe vorerst ausbremsen. Weitere Rechtsauseinandersetzungen stehen an.
Mexiko-Stadt wächst, dürstet, schwankt und wackelt. Grundwasserbohrungen destabilisieren den Boden, jahrausendalte Grundwasserspeicher werden angezapft, bis zu 400 Meter tief ins Erdreich. Planungen sehen Bohrungen bis zu 2000 Meter Tiefe vor. Der Boden weicht auf, Arsen und Fluorsalze vergiften das Grundwasser und gefährden die Gesundheit über die seismischen Bewegungen hinaus.
Die Stadt ist weltweit Spitzenreiter im Verbrauch von Wasser aus Plastikflaschen. Ganze Stadtviertel sind auf Tankfahrzeuge angewiesen, die teures Wasser von privaten Anbietern liefern.
Zudem ist die Verteilung des öffentlich zugänglichen Wassers ungerecht. Der subventionierte Wasserpreis erlaubt den Reichen der Stadt die Verschwendung für Gärten und Schwimmingpools.
Prognosen zufolge kann die Stadt im Jahr 2030 nurmehr für die Hälfte der Bewohner Zugang zu Wasser garantieren. Schon jetzt fließen pro Sekunde 62000 Liter Wasser durch teils undichte Rohre. Dabei geht ein Drittel des kostbaren Wassers verloren.
Ein im Bau befindliches gigantisches Abwasser- und Klärwerkprojekt im Norden der Stadt soll Lösungen liefern.
https://www.ila-web.de/ausgaben/418/der-giftgürtel-ist-nur-ein-problem-von-vielen (aufgerufen am 17.11.2018)
Wir zittern – angesichts der Fakten, die uns ins Bewusstsein rücken, zugleich wegen der nächtlichen Kälte knapp über dem Gefrierpunkt. Die Hauptstadt liegt 2200 Meter über dem Meeresboden. Unsere Schuhe quatschen von den fortwährenden Regengüssen.
Eingepfercht in die Metro Linea 3 wärmen wir uns auf. Zurück in Santo Domingo, entzündet Juanitos humorvolle und warmherzige Großfamilie am Küchentisch unser Lachen.
Um 17:00 Uhr ziehen wir mit Dona Juanita zur Bürgerversammlung weiter. Heute geht es um das Menschenrecht auf die Energieversorgung und die Senkung des Strompreises. 2 Autos quergestellt versperren die Durchfahrt, flugs ist der Versammlungsraum für die ca. 80 Teilnehmenden parat.