Er habe nichts gesehen, erläutert der Pilot im Cockpit den verschreckten Passagieren. Ein tropischer Regenguss zwingt ihn durchzustarten, noch hat die Boeing 767 die Landebahn nicht touchiert. Zehn Minuten später bezeugen Wasserlachen das vorangegangene Naturschauspiel, als wir in der Nachmittagssonne erleichtert das Flugzeug verlassen. Auch biographisch proben wir einen zweiten Landeversuch im Wiedersehen mit Mexiko. Zumindest sprachlich navigieren wir sanfter als 35 Jahre zuvor.
Der unterkühlte Flughafenbus befördert uns in das 20km entfernte Stadtzentrum von Cancun. Unterdessen sind wir hilflos einer ohrenbetäubenden Videoanimation ausgesetzt, ein Lehrfilm- wie verhältst du dich idealerweise, wenn ein Meteorit auf die Erde knallt? Der Film konditioniert zum Fluchtverhalten. Ach Mexiko, was brauchst du wirklich, wenn amerikanische Präsidenten wie Drogenkartelle böse Steine ins Rollen bringen?
Das einst beschauliches Fischerdorf Cancun ist binnen von 50 Jahren zum Tourismus-Hotspot mutiert. Traumstände der Karibik, unterirdische Süßwasserbecken, im sattgrünen Regenwald versteckte imposante Maya-Tempel und nicht zuletzt die Nähe zu USA und Kanada haben Investoren angelockt. Scheinbar mit zu großem Erfolg. Allein zwischen Januar und August 2018 sind über 3 Millionen US-Bürger gen Cancun geflogen, jenseits der Hotelzone leben gerade mal 60.000 Menschen. An der Ostküste der Halbinsel Yucatan alias Riviera Maya klotzen die Pyramiden des 21. Jahrhunderts, mehrstöckige Hotelanlagen der Luxusklasse versperren freie Zugänge zum Strand.
Urlaubsangebote im Superlativ, neuerdings stehen Funsportarten stärker als die Hochkultur der Maya im Kurs. Solventen Dollartouristen verspricht man, mit Delfinen und freundlichen Haien zu schwimmen. In unserem Hostal und in der Gastronomie arbeiten Migranten aus dem mexikanischen Binnenland und aller Welt. Dynamische Verdrängungswettbewerbe allenthalben- 8000! Taxifahrer in Cancun fürchten digitale Portale wie Uber, die aggressiv auf den Markt drängen.
Allzu vertraute Bilder: Die Zunft der Schuhputzer, männlich, beiderlei Geschlechts die ambulanten Kaugummiverkäufer/-innen mit Bauchladen, die junge Frau in indigener Tracht, die abends durch die Restaurants streift und mit traurigen Augen bunte Schmuckarmbändchen verkauft, ein Dreijähriges stapft tapfer an ihrer Seite mit. Menschen, die in öffentlichen Bussen in flammenden Ansprachen über ihre prekäre Lage informieren, mal moralin, mal religiös oder sozialpolitisch konnotiert, um ein Zubrot bitten. Auch in deutschen Städten haben wir uns mittlerweile längst an die Menschen auf der Straße gewöhnt, für die es kein soziales Netz zu geben scheint, die hart um gesellschaftliche Teilhabe kämpfen. Gewiss, die Beschäftigungsformen variieren und Kinderarmut in Deutschland ist nicht direkt sichtbar.
Ach so vertraut, kaum angekommen fühlen wir uns zuhause – nehmen ein spanisches Sprachbad, saugen die knallig bunten Farben auf, ertragen gelassen den steten Schweißfilm auf der Haut, die fetzige Musik rund um die Uhr. Wir erfreuen uns am warmherzigen Humor der Gesprächspartner/-innen, schmunzeln im Urlaubsmodus, wenn die Uhren anders gehen und genießen das Licht, die üppige Natur, den Sonnenaufgang, die chilischarfen Enchilladas, Tacos aus den Garküchen, Ananas, Papaya, Mangos, die uns an den Straßenständen anlachen. Wir quetschen uns gelassen in überfüllte colectivo-Busse, die uns flugs und preiswert zu den Ruinen bugsieren. Der Tag beginnt mit der Suche nach einem Zeitungskiosk, um zu verstehen, was Mexiko im Monat vor dem Regierungswechsel bewegt.