Out of booking.com

In flirrender Hitze spuckt uns der Kleinbus aus. Um 12:00 Uhr am Mittag setzt uns der Fahrer vor einem Hotel in schrillem Rosa aus. Durch die Stadt mit dem merkwürdigen Namen Pinotepa Nacional führt die Drogenroute von Süden kommend. Wir zweifeln, dass wir uns hier wohlfühlen können. Schon beim Einstieg in den Bus vergewisserte sich der Fahrer mehrfach ob unseres Reiseziels. Gerne hätten wir am Vorabend in aller Ruhe eine Unterkunft reserviert. Die gängigen online- Buchungsportale scheinen die Stadt mit 50 000 Einwohnern zu meiden.

Während wir bei 35 Grad ohne Schatten unentschlossen auf dem Gehweg vor dem Bonbonhaus verharren, beschimpft uns wild gestikulierend ein vermutlich psychisch kranker Mann. Das ist unsere erste unangenehme Begegnung nach 3 Wochen mit wunderbar freundlichen Menschen in Mexiko.

Was wir hier suchen? Ebi entdeckte in der Zeitung die Ankündigung. Die Universidad de la Costa lädt zu einer Woche der afromexikanischen Kultur ein. Neben Workshops freuen wir uns auf Jorge Perez Solano, Regisseur und Drehbuchautor. Sein neuer Film La Negrada über schwierige Lebensbedingungen der Afromexikaner_innen wird im Drehort Pinotepa präsentiert.

Unsere Freude auf ein cineastisches Erlebnis steigert sich in der Erwartung, gemeinsam mit den Menschen, um die es geht, vor der Leinwand zu sitzen. Unwillkürlich denken wir an Edgar Reitz und seine Heimatfilme über den Hunsrück.

Schon eine Stunde später lauschen wir im klimatisierten Hörsaal einer Menschenrechtsaktivistin. Hilda Guillén Serrano präsentiert vor ca.250  in blau-weiße Schuluniformen gekleidete Student_innen ein Projekt. Das Erdbeben vom Februar 2018 hatte in den afromexikanischen Gemeinden nahe der Pazifikküste viele Häuser zerstört. Das Projekt sucht Zugang zu Frauen.

Mit Brennholz betriebene Holzöfen und Feuerstellen aus Stein sollen wiederaufgebaut werden. Sie gelten als zentrale Orte zur Ernährung der Familien, auch um über die Kochkunst die Kultur zu bewahren, identitätsstiftend zu wirken und Frauen gleichzeitig zu demokratischer Teilhabe zu befähigen. Resilienz ist ein Ziel. Traumatische Erfahrungen mit den Erdstößen wie mit den Beben durch häusliche Gewalt hemmen die Emanzipationsprozesse. „Bewegt euch, umarmt euch, hört euch zu und vor allem überwindet die Angst“ , ist das Credo der Referentin für einen ganzheitlichen Bildungsansatz.

Die Universidad de la Costa wirkt auf uns bei 35 Grad Außentemperatur wie eine Oase. Auf dem weitläufigen 2013 gegründeten Campus unter Bäumen studieren zurzeit 500 Student_innen Krankenpflege, Agroingenieurwissenschaften, Veterinärmedizin, Industriedesign und Betriebswirtschaft, betreut von 23 Dozent_innen.
http://www.uncos.edu.mx

Der akademische Vizedirektor Dr. José Hernández Hernández nimmt sich Zeit für unsere Fragen.

Die gebührenfreie Universität mit Präsenspflicht von 8:00 Uhr bis 19:00 Uhr bildet Fachkräfte der Region aus, deren Erstsprache mixteco, chatino  und amuzgo ist.

Die Hochschule schafft Räume für interkulturelle Begegnungen. Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft studieren gemeinsam an einer staatlichen Hochschule. Mit der afromexikanischen Woche entsteht ein Forum, das die kulturellen Besonderheiten, sozialen Lebensbedingungen und politischen Interessen der Bevölkerungsgruppe, im universitären Rahmen sichtbar macht. 1,3 Millionen, d.h. ein Prozent mexikanischen Bevölkerung sind Nachfahr_innen ehemaliger Sklaven, bis heute unter prekären Bedingungen lebend. Ihre Kultur wird auch von der mexikanischen Gesellschaft kaum wahrgenommen, geschweige denn wertgeschätzt.

Fern der Stadt Oaxaca, unmittelbar an der Grenze zum konfliktiven Bundesstaat Guerrero mit seiner Hauptstadt Acapulco gelegen, studieren hier gleichviele Männer wie Frauen. Seit es auf dem Land Universitäten gebe, seien die Studienabbrecherquoten auf 15 Prozent gesunken.

Dr. Hernandez zeigt sich überzeugt von seinem Konzept der engen Führung. Die jungen Menschen sollen sich nicht verlieren, sich anstrengen und für ihre gute Ausbildung Selbstverantwortung übernehmen. Der Einsatz werde beim späteren Berufseinstieg in den lokalen Arbeitsmarkt belohnt. Er gibt an, 90 Prozent fänden anschließend einen Arbeitsplatz. Junge Studentinnen, mit denen wir später auf dem Flur sprechen, zeigen sich skeptischer. Sind die Prognosen verfrüht? Die Universität ist jung, ein Studium der Veterinärmedizin erstreckt sich über 5 Jahre, die ersten Absolventen verlassen soeben die Hochschule.

Auf alle Fälle habe die Hochschule klare Regeln und einen guten Ruf, die positive Einstellung zur Arbeit zu fördern. Wer Drogen konsumiere, fliege sofort. Wer mehr als 15 Prozent Fehlzeiten aufweist, erhalte keinen Abschluss. Bei Fehlverhalten werde das Stipendium von 1700 mexikanischen Pesos (85 Euro) gekürzt, das fast allen Studierenden für Transportkosten und Unterhalt zusteht.

Dr. Hernandez, von Hause aus Ökonom, möchte in den kommenden 5 Jahren die Zahl der Studierenden und der Dozent_innen verdoppeln sowie die Kooperation mit den Betrieben intensivieren.

Der Dozent Felipe aus Kolumbien, seit 2 Monaten als Agraringenieur angestellt an der veterinärmedizinischen Fakultät, veranschaulicht Kooperationsmöglichkeiten an einem Beispiel. Die Campesinos leben von Tierzucht, sie verkaufen bereits die jungen Rinder, auch weil die trockenen Böden nur begrenzt Weideland bieten. Den eigentlichen Gewinn machten Viehhändler und Mastbetriebe im Norden. Forschung und Lehre suchen hier neue Wege für die lokale Landwirtschaft. Zugleich ist auch hier drängend, den illegalen Holzeinschlag zur Gewinnung von Weideland auszubremsen. In der Trockenzone fallen weniger als 800 mm Niederschläge jährlich bei steigender Tendenz.

Die Rinderzucht als Einkommensquelle- schon auf der Anreise nach Pinotepa Nacional sahen wir viele Herden auf Schneisen weiden, in den dichten Wald gerissene Wunden.

Wer sind die Dozent_innen, die laut Dr. Hernandez ein hartes Assessment durchlaufen? Auf die Lehrprobe folgt ein Interview, anschließend ein psychologischer Test. Arbeitssuchende promovierte Wissenschaftler aus ganz Mexiko und Nachbarländern bewerben sich- und die stete Herausforderung bleibt, sie mittelfristig in der Region zu halten. Auch darum hofft Dr. Hernandez, das akademische Niveau zu erhöhen und attraktive Forschungsstellen einzurichten.

Mit Interesse nimmt der Vizedirektor die https://blauemurmel.blog zur Kenntnis. Wir versprechen, ihm eine spanische Übersetzung unseres Berichtes über die Küstenuniversität und spüren seine Suche nach einem verstärkten internationalen Austausch. Es mangelt den Student_innen an englischen Sprachkenntnissen. Dozent_innen mit der Erstsprache Englisch zögen jedoch oft bereits nach einem Semester weiter.


Die Uhr ist auf 17:00 Uhr vorgerückt. Das Programm schließt mit Tänzen auf der Bühne des Auditoriums ab. Talentierte Musikgruppen begleiten den Fandango und trommeln zur afrikanisch geprägten Musik. „Baile director, baile, tanz “, johlen vergnügt die an Zehntklässler erinnernden Student_innen im Saal.

Am Ende werden Dr. Hernandez, aber auch wir quietschvergnügt auf die Bühne gezerrt. „La danza libera el alma“- der Tanz befreit die Seele. Was für ein schöner Ausklang .

Zurück in der Stadt Pinotepa Nacional, die in der Dunkelheit schon weniger öde und staubig wirkt. Trotzdem entdecken wir überproportional viele kleine Spielsalons.

Aber auch hier kommen wir mit vielen freundlichen und an uns interessierten Menschen ins Gespräch. In der Stadtbibliothek arbeitet ein ehemaliger Buchhändler ehrenamtlich. Seine Liebe zur Literatur gibt er an junge Menschen weiter. Er versteht sich als Sisyphus im digitalisierten Alltag und vermittelt uns den Eindruck, dass er sich nicht unterkriegen lässt. Die Stadt braucht viele Leuchttürme.

Pinotepa bedeutet übrigens auf nahuatl „in Richtung des bröckelnden Hügels“- nachdenklich ziehen wir weiter.

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

2 Kommentare zu „Out of booking.com“

  1. Ihr lieben Weltreisenden! Da sitze ich hier auf dem Killesberg und darf dank eurer Berichte im Kopf verreisen! Vielen Dank. Besonders hat mich natürlich das Bild der Hebammenkollegin erfreut . Man bzw. Frau würde sie gerne kennenlernen.Ich hoffe, dass ihr viel über ihre Art der Geburtshilfe erfahren konntet. Sehr spannend alles.
    Weiterhin alles gute für eure Reise.
    Annerose

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  2. Liebe Elisabeth und Ebbi,
    da habt ihr Euch ja auf einen interessanten Weg gemacht. Habe soeben ein paar Eurer Beiträge gelesen. Globalisierung hautnah mit allen Vor- und Nachteilen. Mit Erstaunen habe ich zur Kenntnis genommen, dass die Geburtenzahlen in Mexiko stark rückläufig sind. Ist das nun ein Zeichen von wirtschaftlichem Fortschritt, Emanzipation der Frauen durch Bildung oder wirtschaftlicher Not???
    Am Mittwoch habe ich meinen Sohn Paul zum Flughafen gebracht, der nach Cancun flog, und von dort nach Guatemala weiterreiste, um auf einem großen Festival für sein Projekt inanitah.com zu werben.
    In Nicaragua ist die Situation im Moment sehr schwierig, da der Tourismus durch die Angstmacherei der Auswärtigen Ämter komplett zusammengebrochen ist.
    Wie habt ihr Eure weitere Reise geplant?
    Bin selbst mit 68 immer noch berufstätig. sambatours gibt’s immer noch. Ansonsten arbeite ich an der Idee, über ein neuartiges ridesharing-System viele Verkehrsprobleme zu lösen: . Nur will’s niemand so haben.
    Wünsche euch erstmal eine gute und interessante Weiterreise mit vielen Begegnungen, die das Reisen erst interessant machen und natürlich eine Menge follower für Euren Blog.

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