Mexiko- Blues

Auf dem Tisch vor uns liegt die brüchige Landkarte mit Mexikos Wüsten, Regenwäldern, Ozeanen, Vulkanen, Gebirgen der Sierra, über- und unterirdischen Flüssen. Nur in 6 von 32 Bundesstaaten hinterließen wir Fußspuren. Chiapas, Oaxaca, Yucatán, Quintana Roo, Campeche und Ciudad de México heißen die lieb gewonnenen Puzzleteile. Die Karte zerfiel, stetig ausgeklappt, gewendet, im Dezemberwind flatternd, als Mückenklatsche missbraucht. So zerbröselte die kartographische Ordnung binnen unseres zweimonatigen Aufenthaltes.

Wehmütig schnüren wir unsere Rucksäcke. Nichts Böses widerfuhr uns. Kein Polizist verlangte eine Sonderzahlung, kein Taxifahrer zwang uns Extratouren auf, damit das Taxometer glüht. Am 17. Dezember verabschiedeten wir uns aus dem Land der Künstler_innen, Kreativen, Rebell_innen und Frommen. Adiós verrücktes México. Ojalá hasta luego, hoffentlich bis bald.

 

In Mexikos Silhouette verschwindet fünfeinhalbmal Deutschlands Fläche. Obwohl die Bevölkerungsdichte mit den 127 Milllionen Einwohnern vergleichsweise gering ist, wohnen Familien für gewöhnlich auf engstem Raum als Solidarsystem, wenn nicht durch die Arbeitsmigration zerrissen im extremen Spagat.
Geschätzt 30 Millionen Menschen in den USA haben mexikanische Wurzeln und Pässe, viele ohne legalen Status. Eltern und Kinder kommunizieren über Messenger-Dienste, solange die Bande hält.

 

Von den Ruinen und Schätzen der einstigen Hochkulturen wurde bislang nur ein Bruchteil unter den Regenwäldern ausgegraben, verschüttet durch die gewalttätige spanische Eroberung und den allgegenwärtigen Rassismus.
Die tiefen Wurzeln blieben lebendig in religiösen und kulturellen Bräuchen, der Medizin, der Sprache, dem großen Mix aus katholischer Marienverehrung und kosmischen Elementen.

Anarchisch tolerant blüht der Synkretismus in der religiösen Vielfalt und tiefen Volksfrömmigkeit – im laizistischen Staat.

Die bunte Gesellschaft der Lebenskünstler_innen überzieht selbst den Tod mit Zuckerguss, weint und lacht. Trotz aller blutigen Taten bieten Heilige und landestypischen Agavenschnäpse pausenlos Anlässe für die ungebrochene Feierlaune. Sind Lachtränen salzig?

Die soziale und kulturelle Kluft spaltet das Land. Schwach scheint die Erinnerung an die goldene Dekade der 70-ziger Jahre im einst liberalen, aufstrebenden Schwellenland. Im failing state setzen die Menschen auf die Familie als Solidargemeinschaft und Patronagesysteme.

Gesehen haben wir, wie autoritäre Strukturen das Menschsein in der Arbeitswelt beschädigen. Simultan  wehren sie sich,  indem sie Straßen blockieren, die Türen der Bürokratie einrennen, das Gesundheitssystem bestreiken, gegen vorenthaltene Löhne protestieren, um Land zu gewinnen.

Die vielen klugen Menschen, die wir trafen, zeigten sich haltlos erschöpft von Arbeitstagen bis zu 12 Stunden, der Inflation, des Drogenkrieges, des Vertrauensverlustes in staatliches Handeln infolge von 70 Jahren schamloser Korruption- und zugleich im alltäglichen Miteinander beeindruckend achtsam, solidarisch, um Lösungen bemüht statt voller Klagen.  Sie scheinen begabt, Widrigkeiten mit tapferem Augenzwinkern zu bewältigen, tief gläubig  und oft voller Zuversicht.

Unsere Wahrnehmungen mögen täuschen, unser Blog spiegelt kleinste Ausschnitte wider. Mehr ließ sich nicht in Worte und Bilder fassen. Presseberichte ergänzten die Leerstellen, z. B. El Proceso, La Jornada, America21, Animalpolítico.com, die deutschen Monatszeitschrift ila und Lateinamerikanachrichten. Auch Gespräche z. B. mit Tortillaverkäuferinnen wie Hochschullehrkräften klärten.

AMLOs Regierungsprogramm verspricht „die vierte Transformation“ des Landes. Alles kann und muss besser werden im Land der neoliberalen Ausbeutung, der Korruption, der Gewalt. Was kann ein Präsident, die Sammlungsbewegung MORENA im Rücken, binnen von 6 Jahren bewirken? Kann sich eine Zivilgesellschaft über die Entfernungen hinweg landesweit organisieren?

 

Ach du diverses Mexiko.
Im Transit nach Costa Rica überfällt uns der Blues.

 

Spaziergang mit Don Alfonso

Durch Campeche und das Wirrwarr alter und neuer Geschichte führt uns der Theologe und Prozessbegleiter Alfons Vietmeier, der seit 35 Jahren im Land lebt und arbeitet, verheiratet mit einer mexikanischen Anthropologin.

Schon in Deutschland lasen wir sein äußerst lesenswertes Buch „Mexiko tiefer verstehen. Erfahrungen aus Lateinamerika. Impulse für Deutschland. Münster 2013 (dialogverlag)“ und überlasen wohl einen Passus. Sonst wären wir nicht so überrascht worden, mitten in den neoliberalen Verwerfungen, im tobenden Drogenkrieg folgendes bestätigt zu finden:
„Überall blüht ein herzliches und erfreuliches Miteinander…Der gute Eindruck bleibt…nach Wochen und selbst nach Jahren bestehen. Wider alle schlimmen Berichte und Umstände: Die große Mehrheit der Mexikaner ist zufrieden mit dem Leben“ (S. 44).

Alfons zeigt uns die hervorragend restaurierte koloniale Altstadt Campeches, seit 1999 ein UNESCO-Weltkulturerbe. Im Schnelldurchgang spannt er für uns den Bogen von der präkolonialen Geschichte über die spanische Eroberung hin zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen.

Menschen drängen sich mit Blumensträußen in der Hand rund um einen Kirchplatz. Ganz Mexiko feiert am Vorabend des 12. Dezember den Tag der Jungfrau von Guadeloupe- „die Mutter aller Mexikaner_innen, Symbol der langsam wachsenden nationalen Identität“ laut Alfonso im ach so fragmentierten Mexiko.

Abschließend lädt Alfons zum Besuch der Mayaruinen von Edzna ein, ca. 60 km außerhalb von Campeche gelegen.
Während der Fahrt über die holprige Carretera diskutieren wir über Gott und die Welt, soziologische Beobachtungen im digitalen Zeitalter. Die sich abzeichnende Epochenwende verlange, dass Menschen sich vernetzten, aber auch zugleich wieder verwurzeln. Das Auto fliegt an den ehemaligen Haziendas vorbei. „Das grüne Gold“ des Henequen, eine Art Sisalpflanze und die Kaugummiproduktion verhalfen um die Jahrhundertwende Plantagenbesitzern in Campeche zum Reichtum.

Die Ruinenstadt Edzna mit der fünfstöckigen Akropolis strahlt eine besondere Aura aus. Im Gespräch mit den Museumsangestellten holt uns die Gegenwart ein. Die kulturhistorische wird um eine ökologische Führung ergänzt.

David erzählt uns, dass – trotz aller staatlichen Schutzprogramme – die Entwaldung Yucatans v.a. durch agroindustrielle Projekte, die Palmölproduktion und Zitrusfrüchte weiterhin voranschreitet. Auf einigen Farmen werden trotz offiziellen Verbots, Experimente mit gentechnikveränderten Soja- und Maissorten unternommen.

Elvis beschreibt das dramatische Insekten- und Artensterben durch den Pestizideinsatz. Besonders die Bienenvölker litten bei der Suche nach Nahrung. Entsprechend sei die Produktion von Honig für den Export, u.a. nach Deutschland stark zurückgegangen.

Omar, der aus dem erdölreichen Tabasco stammt, ist wütend über hinterlassene Umweltschäden wie z. B. die Vergiftung der Böden. Ölrückstände fließen in den Boden, da Erdöl illegal angezapft wird. Er kenne Gemeinden, in denen Kinder vermehrt an Blutkrebs erkrankten. Das Problem schweige man tot.

Adiós Don Alfonso, wir genießen den seelenverwandten Blick auf Mexiko. Kaum sind wir im Hostal zurück, dampft unser Smartphone. Alfons sandte uns flugs interessante Zeitungsartikel zu.  Muchas Gracias!

Paradies mit angebrochenen Ecken

In mehrstündigen Busfahrten durch den lakandonischen Regenwald steuern wir diverse Naturreservate an.

Unser erstes Etappenziel: Das abseits gelegene Dorf  Las Nubes mit seinem reißenden Fluss Rio Santo Domingo. Die 300köpfige indigene Dorfgemeinschaft hat das Potenzial erkannt und mit Hilfe staatlicher Unterstützung einen Ökotourismuspark eingerichtet.

Das Dorf wirkt für Chiapas ungewöhnlich: Mit Natursteinen aufwändig gepflastert sind die Straßen, nur wenige Autos passieren. Straßenlaternen, liebevoll herausgeputzte Steinhäuser mit kleinen Vorgärten, saubere öffentliche Anlagen, Container zur Mülltrennung und Verbote, sich nach 22:00 Uhr im öffentlichen Park aufzuhalten, regeln den Alltag. Selbst im angelegten Lehrpfad durch den Regenwald sind Hinweisschilder mit erzieherischem Impetus montiert: „Achte die Natur, dann wird sie auch Dich achten“.

Alkohol und Zigaretten sind verpönt und fehlen im Sortiment der  Dorfläden. Es stellt sich heraus, dass die Bewohner_innen überwiegend den Zeugen Jehovas zugehörig sind. „Wir sind stolz auf diese Regeln und befolgen sie. Wir haben die Bibel studiert“, klärt uns die Vermieterin auf.

Was fehlt: Die KiTa „el kinder“ bleibt häufig geschlossen, „weil Erzieher_innen es selten länger als 4 Wochen im Dorf aushalten.“
Wie in den umliegenden Dörfern ist eine Versorgung mit sauberem Trinkwasser nicht gegeben. Die Menschen nutzen den Fluss, um sich und die Wäsche zu waschen sowie ihr Geschirr zu spülen.

Trinkwasser muss gefiltert oder für teures Geld angeliefert werden. Wir fürchten die Seife im Grundwasser und verzichten auf Shampoo im Hostal wie überhaupt auf die Dusche. Der Fluss schenkt uns das Vollbad.

Neben dem Tourismus lebt das Dorf von Subsistenzlandwirtschaft, von Mais, Bohnen, Kaffee, Kakao, Bananen, Zitrusfrüchten. Die Rodung des Regenwaldes und das Schlagen von Brennholz sind eigentlich nur mit Genehmigung der Behörde möglich.

Unsere Recherchen zeichnen außerhalb der geschützten Biosphärenreservatsidylle ein ganz anderes Bild. Jährlich werden
75 000 qkm Regenwald in Mexiko zerstört. Ungebremst breiten sich agroindustrielle Großprojekte, u.a. Palmölplantagen und die großflächige Viehzucht für den nationalen und internationalen Export aus.

Entlang der guatemaltekischen Grenze begegnen uns mit Vieh oder Holz beladene monströse Trucks. Allenthalben entstehen in Südmexiko Wasserkonflikte  aufgrund der Verschmutzung durch Agroindustrie und Bergbau , Staudammbau und Wassertransfer.

Auch in Las Nubes verstört uns ein Landwirt, der vor der Aussaat unbekümmert den Boden mit Glyphosaat spritzt.

Hält  der lokale Tourismus die Menschen im beschaulichen Las Nubes? „Ustedes tienen suerte – Sie haben Glück , dass ich euch wie vereinbart abhole,“ begrüßt uns frühmorgens der Motorradtaxifahrer. Beinah hätte er sich am Vorabend gemeinsam mit 5 Freunden auf den Weg an die US-amerikanische Grenze nach Tijuana gemacht. Die Tränen seiner alleinstehenden Mutter hielten ihn nochmal davon ab, bemerkt er.

Auch wir ziehen von dannen, besuchen weitere ökotouristische Oasen, zunächst das Naturreservat Guacamaya, bekannt für rote Aras, Kaimane und Brüllaffen.

Gleichfalls locken die gigantischen Wasserfälle von Agua Azul.

Die Idylle könnte täuschen. Noch immer werden Landkonflikte teils paramilitärisch mit Waffengewalt  ausgetragenen. Die Straße wurde 1997 vom mexikanischen Militär ausgebaut, um in die Rückzugsgebiete der zapatistischen Befreiungsbewegung vorzudringen.

            Die Erde kauft und verkäuft man nicht.

Die Dorfgemeinschaft von Agua Azul ringt bis heute mit den staatlichen Behörden um die gerechte Beteiligung an den Einnahmen des großen Ökoparks, Magnet für Mexikoreisende.

Kaffee und Cabanas

Glasklar und kühl ruht der Lago Zciscao auf 1500 Meter Höhe. Nach dem Bad wärmen wir uns im Schlafsack auf und blicken aus dem Fenster der Cabana, unserer Hütte auf die glitzernde guatemaltekische Bergkette. Niemand hält Spaziergänger, Händler und Arbeitskräfte auf, die den Grenzverkehr rege nutzen. Kontrollposten gebe es erst 50 km im Landesinneren hören wir. Offene Grenzen sind scheinbar möglich.

Auf mexikanischer Seite liegt das Dorf Tziscao mit 3000 Einwohner_innen. Ab und an schreit ein Hahn. Leise brummen Seewasserpumpen, die große graue Plastikkanister vor jedem Haus füllen, wenn der Regen ausbleibt. Zweimal im Jahr säen und ernten die Menschen dank der Regenzeit und künstlicher Bewässerung. Die Landwirtschaft dient überwiegend dem Eigenkonsum: Mais, Kaffee, Kakao, Bohnen, Bananen, Zitrusfrüchte, Tomaten, Avocados, Gemüse, freilaufende Hühner, selten ein Rind. Seit 45 Jahren gedeiht das Pflänzchen sanfter Tourismus. Das Naturreservat Montebello zieht vor allem mexikanische Tourist_innen an.

In einer skandinavisch anmutenden Bauweise wurden gemütliche Hütten aus solidem Holz errichtet. Sein Bruder sei Schreiner und habe die Anregung zufällig aus einer Fernsehsendung, erklärt uns unser Vermieter Hugo stolz und zugleich mit Sorgenfalten. Der Wasserspiegel des Sees steige an, sodass ufernahe Hütten bereits verschwunden sind. An unregelmäßigen heftigen Regenfällen spüre man seit 2 Jahren verstärkt den Klimawandel.

Hugo engagierte sich Mitte der 90er Jahre für die zapatistische Bewegung EZLN. Als ihn die Polizei verfolgte, zog er sich aus der Politik zurück. Seine Kraft gilt seither dem Aufbau kommunaler Gemeinschaftsprojekte. 22 Familien schlossen sich zu einer Kooperative zusammen. Sie nutzen die staatliche Unterstützung für Tourismusprojekte und dürfen sich Pueblo Magico, magisches Dorf nennen, indem sie ökologische Standards erfüllen, z. B. den Müll trennen, kein Brennholz schlagen.

Gleichzeitig geht die stete Arbeitssuche weiter. Hugo absolvierte u.a. eine medizinische Kurzausbildung für die zahnmedizinische Erstversorgung. Er zieht Zähne und fertigt Gebissabdrücke an. Im Nebenraum betreibt sein Sohn einen Frisörsalon.

Frauen backen zentral preiswerte Tortillas für das Dorf.

Anders als umliegende Bergdörfer genießt das Dorf nah der Hauptstraße eine gute Infrastruktur. Der Gesundheitsposten, die Primarschule mit 300 Kindern, eine Sekundarschule, eine Oberstufenschule, die katholische Kirche mit einem engagierten Pastor, der Fußballplatz, Container zur Mülltrennung, an den Hauseingängen. Verbotsschilder verweisen darauf, keine Seifen zu verwenden, die ins Grundwasser sickern, eine Kanalisation ist nicht angelegt.

Wir genießen die friedliche Atmosphäre und fühlen uns heimisch, die Menschen grüßen freundlich. Gelassen lassen wir unseren Reichtum in der Hütte zurück, für die es keinen Schlüssel gibt, Pässe, Tablett, Kamera, Bargeld. Der einzige Dorfpolizist gilt als Mann des Vertrauens, vom Dorf gewählt. Wie in vielen Dörfern Chiapas bleibt das staatliche Gewaltmonopol ausgesperrt. Die Dorfgemeinschaft regelt auftretende Konflikte intern und wirkt gut organisiert. Gerade wurde der alte Bürgermeister wegen Korruption und Untätigkeit abgewählt.

Das Ökotourismusprojekt ist für viele ein Hoffnungsträger, da es Arbeitsplätze schafft und Besucher_innen ins Dorf bringt. Gleichzeitig verliert die Subsistenzlandwirtschaft an Bedeutung. Denn sie ist an harte körperliche Arbeit geknüpft und ermöglicht nur geringe Einnahmen. Auch aus Tziscao wandern junge Menschen in Industriestädte des Nordens oder in die USA ab. Andere suchen Einkünfte über den lokalen Tourismus. So warten die Motorradtaxifahrer geduldig am Ortsrand auf Touristen, um diesen lukrative Rundfahrten zu den umliegenden Seen anzubieten.

„Früher habe ich mit meinem Vater als Kaffeebauer gearbeitet. Jetzt fahre ich lieber Motorradtaxis“, berichtet Pancho. „Die Konkurrenz ist groß. Mittlerweile gibt es 40 Motorradtaxifahrer im Dorf. Jetzt, Anfang Dezember herrscht Leerlauf, die Saison beginnt mit den Weihnachtstagen. Besucher kommen auch zu Ostern und im Juli“. 9 Monate Unterbeschäftigung?

Wer kultiviert den Kaffee, wenn die Kinder der Kaffeebauern flüchten?

Miguel Antonio nutzt den Anbau als Nebenerwerb. Ohne die Familie könnte er die Ernte im Dezember und Januar nicht bewerkstelligen. Der Löwenanteil landet in den Taschen der Händler. Der Produzent erhält allerhöchstens 5 Prozent des Preises, den der Konsument zahlt, schreibt die überregionale Tageszeitung La Jornada am 28.10.2018. Der Kaffeeproduzent bleibt ein Abenteurer, der alle Risiken trägt und als schwächstes Glied in der Kette die Preisschwankungen ausbaden muss.

80 Prozent des mexikanischen Kaffees wird exportiert. Die Überproduktion, der Verfall des Kaffeepreises an der New Yorker Kaffeebörse und der Pilz „La Roya“ machen den Kaffeebauern weltweit 2018 zu schaffen. Subventionierte der mexikanische Staat bis in die 80-ziger Jahre hinein den Kaffeeanbau in den sogenannten „goldenen Jahren“ Mexikos, verbat dies das Freihandelsabkommen NAFTA.  Durch den Klimawandel bedingte Kälteeinbrüche, Hagel und Starkregen sind Auslöser für den Pilzbefall.

Mexikanischer Kaffee wird zudem zu 85 Prozent auf Minifundien produziert. Vor allem in den Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Veracruz besitzen in der Regel indigigene Bauern weniger als 2 ha Anbaufläche. Was wir in Tziscao erfahren, scheint typisch.

Auch für Miguel Angel übersteigen die Produktionskosten den Gewinn, wenn er Wanderarbeiter aus Guatemala zum Tageslohn von 100 Peso (5 Euro) einstellen muss. Viele Bauern in der Region geben auf, sie pflanzen Mais und Bohnen.

Anders Don Emilio, der örtliche Kaffeeproduzent und Händler. Er kauft den Kaffee der Kleinbauern auf, trocknet, röstet, mahlt, verpackt und vertreibt die Bohnen auf dem lokalen und nationalen Markt, zum Teil auch unter einem Biosiegel. „Leider schätzen die Mexikaner den biologischen Kaffee nicht, sie sind nicht bereit, die Mehrkosten zu zahlen. Dabei erfordert der Verzicht auf Pestizide einen hohen Arbeitseinsatz“, erklärt er. Als Mitglied des mexikanischen Kaffeeverbandes fordert Don Emilio von der neuen Regierung staatliche Unterstützung, um Schwankungen des Kaffeepreises abzufedern und die Bauern zu beraten. „La Roya macht uns zu schaffen, wir müssen umsteuern und neue, gegen den Pilz resistente Kaffeesorten anbauen. Viele Bauern, die mit Pestiziden arbeiten, kennen nicht die Alternativen, zum Beispiel biologische Fungizide zu nutzen, die Anpflanzungen zu diversifizieren.“

Wie viel Liebe steckt in einer guten Bohne!

Weiterlesen?
http://www.spiegel.de/spiegel/kaffee-die-bittere-wahrheit-ueber-unser-lieblingsgetraenk-a-1168626.html

Tagebuchnotizen

23.11.2018
Traumhafte Stille der Sierra. Fruchtbares Tal 8 km außerhalb Oaxacas. Blick auf das Grundstück.
Brenda und Alejandro gründen gemeinsam mit Freund_innen ein Wohnprojekt mit großem Garten. Wir genießen das Licht. Abends trauriger Abschied von Brenda und den Mädchen. Alejandro steigt mit uns in den Nachtbus gen Chiapas.

24.11.2018
Zerknautschte Ankunft in San Cristobal nach 13 Stunden Busgeschaukel. Frühstück mit Anna (Brot für die Welt), Gespräch über Vertreibungen, fehlende Landtitel, Chiapas auf der Route lateinamerikanischer Drogenbanden, Fragmentierung der indigenen Gruppen, unversöhnlich und misstrauisch dem politischen System gegenüber. Radikale Gegenentwürfe- Rückzug in Caracoles, autonome, selbstverwaltete Dörfer.
Referent Alejandro, geladen zu einem kritischen Forum. Sein engagiertes Buch zum Friedensprozess in Chiapas. Diskussion über konkrete Utopien und die Realität ein Vierteljahrhundert nach dem Aufstand.
Abreise Alejandros. Adios! Auf Wiedersehen, hoffentlich bald!

25.11.2018
Frauenmorde in steigender Zahl. 250 Frauen demonstrieren in San Cristobal gegen die Gewalt, fordern ein Ende der Straffreiheit. Viersprachige Abschlusskundgebung in kämpferischen Tönen, viele indigene Frauen.

Kleine Murmel: Junge Leute aus Kpalime (Togo) auf der Demonstration. Sie pflanzen Bäume. Kpalime- weltwärts-Arena unseres Sohnes Felix 2009/10. Die afrikanischen Freiwilligen frieren in ihrem Workcamp auf 2200 Höhe, ein Einsatz für  3 Monate.
Sie kugeln sich  vor Lachen, als Ebi ihnen zum Abschied ein „Bon Cri-Cri“ wünscht.

„Nachmittags- inspirierendes Museum für Maya- Medizin. Heilpflanzen als klare Alternativen zur Pharmaindustrie. Plakate gegen weltweite Biopiraterie. Berührend- vor jedem Schnitt werden die Pflanzen um Vergebung gebeten. Gebete an den Geist der Erde, Kerzen, Knochen und Kiefernnadeln vertreiben böse Geister. Frauen gebären traditionell auf den Knien, gehalten vom Mann und der Hebamme. Notiert für Hebamme Annerose, meine Schwägerin.

26.11.2018
Wir streifen durch die Stadt der Gegensätze. Touristische Infrastruktur, Kolonialbauten, Galerien, Museen, Hotels. Rucksacktouristen und Betuchte, Szene- Cafes.

Seit 1994 San Cristobal Mekka für Revolutionsbegeisterte auf der Suche nach der zapatistischen Formel. Viele indigene Frauen und Kinder, die Waren anbieten. Die Trachten- wegen der Touristen? Indigene auf der Suche nach dem guten Leben als antikapitalistischer Anziehungspunkt.

Abends linksalternative Kulturkinokneipe KiNoKi, könnte auch Mainz, Berlin, Köln sein. Doku über die Geschichte der zapatistischen Bewegung von 1994 bis 2007. Wiederauffrischung für uns. Die Stadt wächst an den Rändern wie eine Krake aufgrund hoher Binnenmigration, Zuzüge und Vertreibungen aus konfliktiven Dörfern. Die Höhe von 2200 Metern und die geographische Lage erschweren die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft.

27.11.2018
Nasskalter Bindfadenregen. Verlassen kaum das Hostal. Mit uns junge Leute, die biologisch unsere Enkel sein könnten. Besuch des Museums Jtatik Samuel Ruiz, Bischof, der den Friedensprozess zwischen den Zapatisten und der nationalen Regierung moderierte. Diskussion mit der Museumsleiterin Natalia Bojórquez und dem Berater Jorge Santiago. Kopfschüttelnde Ratlosigkeit, Waffengewalt, Vertreibungen, Extraktivismus, Rassismus, Machismus. Misstrauen und Fragmentierung allenthalben, failing state schon auf kommunaler Ebene. Der Staat gegen „Uso y Costumbres“, d.h. die autonome Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit,  evangelikale Sekten gegen den bröckelnden Katholizismus, indigene Interessensgruppen in Abgrenzung. Besuch in den Caracoles ohne Beziehungen unmöglich.

28.11.2018
Busfahrt 2 Stunden südöstlich, die Stadt Comitan, 140 000 Einwohner_innen. Erste unabhängige Stadt Lateinamerikas im 19. Jahrhundert. Eine Perle. Schöne Plätze. Engagierte Kulturschaffende zerren uns mit ansteckendem Engagement in die Museen. Stadt der Schriftstellerin Rosario Castellano (1925-1974).

Mitten im armen Chiapas auffallender Wohlstand, viele Volkswagen, teure Hotels. Durch Comitan führt die Panamericana. Ein fruchtbares Umland, Geldrückfluss der Händler, die Grenze zu Guatemala 50 km entfernt.

Abends Eröffnung des 2. zentralamerikanischen Dokumentarfilmerinnen-Festivals.  Frauen filmen. Preisgekrönter Film über befreiende Grundschulpädagogik auf dem Land „El Sembrador“ (2017, 82 Minuten). Die Filmemacherin und der Lehrer anwesend. Goldkorn für die Lehrerausbildung auch in Deutschland, Anstiftung zur inklusiven Bildung, zum selbstbestimmten Lernen. 45 Kinder aller Altersgruppen im einzigen Klassenzimmer. Lernort Feld, Himmel, Fluss, Herd. Beeindruckende Lehrerpersönlichkeit, seit 20 Jahren jährlich neu von der Gemeindeversammlung gewählt.

29.11.2018
Tagesausflug ins Naturschutzreservat Montebello. Wanderung durch dichten Nebelwald, einen See umrundet. Insgesamt 59 Gewässer. Aufgeschreckte Ameisenbären huschen über unsere Füße.

Abends Fotoausstellung: Achtsame Nahaufnahmen zapatistischer Frauen in Schwarz-Weiß aus den Jahren 1994-1998. Die Fotografin Angeles Torrejón aus der Stadt Mexiko  beschreibt, wie ihre Fotos während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der mexikanischen Armee in den 90-er Jahren entstanden. Großes Interesse bei der Vernissage, Applaus für ihren weiblichen Blick auf den zapatistischen Aufstand.

30.11.2018
Konzerte und Lesungen. 18. Internationales Literaturfestival Rosario Castellano, Eintritt frei. Kolossales Kulturangebot der Stadt mit Poesie, Musik, Theater, und Tanz. Extreme Ungleichzeitigkeiten. Wenige Meter von der Großbühne entfernt stürmen ca. 100 wütende und verzweifelte Arbeiter die Bürgermeisterei.  Ihr  Lohn für November 2018 wurde nicht ausgezahlt.

01.12.2018
Redaktionssitzung der Blauen Murmel. Artikel über die schwierige Wirtschaftslage. Kaum veröffentlicht, fällt uns ein, nichts über die galoppierende Inflation und die dramatische Abwertung des Peso gegenüber dem Dollar als Leitwährung gesagt zu haben.

Vom Regierungswechsel nichts zu spüren, kein Freudenfeuer der Morena- Bewegung in Comitan sichtbar. Fernsehspot mit AMLOs Vereidigung.

2.12.2018
Endlich laufen und schwimmen, intensive   Naturerfahrungen. Hütte für einige Tage im Naturschutzpark Montebello, unmittelbar an der Grenze zu Guatemala  gemietet. Strahlender Sonnenschein, Landschaft wie in Finnland? Tasten uns in kalte Wasser. Die Kaimane seien Vegetarier, neckt uns Moto-Taxifahrer Pancho.

Suchen Sie billige Arbeitskräfte?

„Ach, Mexiko gehört zu Nordamerika?
Ach, die offizielle Arbeitslosigkeit beträgt nur 3 Prozent?
Ach, die Wirtschaft wächst seit Jahren durchschnittlich um 7 Prozent?“

Geblendet reiben wir uns die Augen. Auf den ersten Blick passen die Informationen nicht. Denn die Krise ist allgegenwärtig. Höchste Zeit, dass wir auf unserer Reise durch die armen Bundesstaaten Oaxaca und Chiapas den Blog mit wirtschaftlichen Fakten füllen.

Die HighTech – Industrieproduktion und moderne Dienstleitungsbranchen sind vor allem im Norden angesiedelt. Eine subsistenzorientierte Agrarwirtschaft, traditionelle Handwerksbetriebe und das Kleingewerbe prägen den Süden.

Das 1994 in Kraft getretene Freihandelsabkommen NAFTA kettet die Ökonomie zu ungerechten Bedingungen an den Nachbarn im Norden. Mit über 80 Prozent sind die USA der größte Handelspartner, gefolgt von China mit mittlerweile 7 Prozent und der Europäischen Union mit ca. 5 Prozent.

Der Tragödie nächster Akt- gestern, am 30.11.2018 unterzeichnet der scheidende mexikanische Präsident Nieto an seinem letzten Tag im Amt! die Neuauflage des NAFTA- Abkommens, von Trump diktiert. Der Ort des Geschehens: Der G20- Gipfel in Buenos Aires.

Der Ausverkauf des Landes geht weiter: Low- Budgetjobs in der Fertigungsindustrie in zollfreien Produktionszonen, die Privatisierung des Wassers und des Energiesektors, das Beuteschema kanadischer Minengesellschaften, die Überschwemmung des Agrarmarktes mit US- amerikanischer Überproduktion.

Nach Mexiko, Ursprungsland des Mais und reich an Maissorten, dringt gentechnisch beeinflusster Futtermais ein. Die US- Wirtschaft nutzt Mexiko als Billiglohnland, die Löhne betragen nur ein Achtel des US- Durchschnittslohns, Arbeitsrechte und -schutz werden klein geschrieben. Umweltschutz bleibt ausgeblendet.

In Zeitungskommentaren, Diskussionen, Gebeten in der Kirche und auf Demonstrationen wird in Südmexiko die Kritik am Neoliberalismus und seine bitteren Folgen für die Kleinbauern laut.

Arbeitssuche prägt den Alltag, die Unterbeschäftigung zehrt. 60 Prozent der Menschen haben kein festes Beschäftigungsverhältnis und verdingen sich auf Abruf, verkaufen Selbstgebackenes, Tortilla, geschälte Kaktusfrüchte. Auch die Mittelschicht Mexikos ist extrem armutsgefährdet.

46 % der Mexikaner_innen gelten als arm und müssen mit weniger als 5 Dollar täglich auskommen. Der Mindestlohn beträgt 79 Pesos (umgerechnet fast 4 Euro) am Tag und liegt damit unterhalb der Armutsgrenze. In Supermärkten treffen wir auf Wachpersonal mit Maschinengewehr im Anschlag, um Plünderungen zu verhindern. In den letzten Jahren kam es häufiger dazu.


.
Trotz aller UN- Nachhaltigkeitsziele  putzen Kinder Schuhe. Schon Fünfjährige verkaufen Kaugummi, sie werden zu harten landwirtschaftlichen Arbeiten herangezogen. Jedes zehnte Kind besucht keine Schule, laut UNICEF ist fast jedes zweite der 40 Millionen Kinder von Armut betroffen, vor allem in den ländlichen und indigenen Gebieten.

Ein Rekord: 2017 betrugen die Rücküberweisungen von Angehörigen aus dem Ausland 29 Milliarden Dollar laut der mexikanischen Zentralbank. Das Erdöl stand mit 17,6 Milliarden Dollar an zweiter Stelle vor dem Tourismus. Trumps Ankündigungen, Migrant_innen abzuschieben, führt zu doppeltem Stress. Die Rücküberweisungen sind rapide gestiegen, weil Menschen künftig auch um diese Einnahmequelle fürchten.

Seit 2012 hat sich u.a. durch den Preisverfall des Erdöls die wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert. Die Löhne stagnieren, die Inflation im Bereich der Wasser-, Energie- und Transportkosten wirkt besonders bitter für die Menschen, die oftmals weite Wege zurücklegen müssen. Ein Liter Benzin kostet heute mehr als 20 Pesos (1 Euro). Vor 2 Jahren lag der Preis noch bei 14 Pesos.

Trotz Wachstum steigt die Armut. 1% der Superreichen verfügen über 1/3 des nationalen Vermögens. Das Kapital wird ins Ausland transferiert, Steuerzahlungen werden ignoriert.

Betriebe stellen Arbeitnehmer nur für 4 Wochen ein, um keine Sozialabgaben zu zahlen. Die offizielle Arbeitslosenstatistik von 3 Prozent „zählt“ nur die Menschen, die in der Sozialversicherung erfasst sind. Mexiko ist zudem der einzige Staat der OECD ohne Arbeitslosenversicherung.

Überwiegend korrupte „gelbe“ Gewerkschaften handeln mit den Arbeitgebern Schutzverträge ohne Wissen und Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten aus, übrigens auch mit dem BMW- Konzern, der 2019 ein neues Werk in Mexiko eröffnet. Bevor der erste Arbeitsvertrag zustande kommt, ist die 48- Stunden- Woche festgeschrieben, die Löhne liegen zwischen 200 Euro und 350 Euro. Die Gründung freier Gewerkschaften? Eine Fehlanzeige.

„Suchen Sie nach billigen Arbeitskräften? Gehen Sie nach Mexiko, nicht nach China!“ schrieb die Financial Times im Februar 2017. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt in Mexiko mittlerweile um 42 Prozent niedriger als in China.

Seit dem Jahr 2000 bestehen zudem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Mexiko, die Menschenrechtsgrundsätze in der Präambel blieben bloßes Papier. 2017 wurde der Vertrag erneuert. Immerhin leben in Mexiko 123 Millionen potentielle Arbeitskräfte und Konsumenten.

Übrigens, 1900 deutsche Unternehmen sind in Mexiko vor Ort. Das Handelsvolumen mit Deutschland betrug 2017 18 Milliarden Euro. Käfer kurven durch die Straßen, Pharmakonzerne werben mit großen Plakaten, Monsanto droht mit Bayer, das Saatgut zu beeinflussen.

Des Weiteren blühen Waffengeschäfte. Endlich steht der schwäbische Waffenhersteller Heckler &Koch in Stuttgart wegen illegaler Lieferungen von Sturmgewehren vor Gericht.

Zum Weiter- Lesen, Über- Prüfen, Hinter- Fragen, Auf- Regen, Kommen- Tieren:

 

In Arbeit – 22 Porträts

Seit mehr als 25 Jahren erhält der Buchhalter Pedro Kettenverträge. Sein Betrieb produziert seismische Alarmanlagen. Der 11- Stunden Tag erschwert die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Pedro möchte aus der stressigen Routine ausbrechen und weiß „Wenn ich dies tue, gibt es Dutzende, die auf meinen Job warten“. Mit seiner Frau diskutiert er über einen Rollentausch, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hat. Die Kinder sind mittlerweile 10 und 12 Jahre alt. Aufgrund der realen und gefühlten Gefährdungen werden sie von den Eltern intensiv begleitet. Der Verkehrskollaps in der Hauptstadt ist der Zeitfresser Nummer 1.

Elisa arbeitet als Angestellte für TIC, eine Telefongesellschaft. 18 indigene, von der digitalen Infrastruktur abgeschnittene kleine Gemeinden zwischen 200 und 300 Einwohnern sollen in der Sierra Oaxacas Zugang zum Internet erhalten. Elisa kümmert sich um die Finanzierung und verhandelt mit den Gemeinden, die bei der Errichtung der Antennen aktiv mithelfen müssen. Nur 40 Peso im Monat kostet der Vertrag über TIC. „Ich bin glücklich, wenn die Menschen für weniger als 1 Peso mit ihren Familienangehörigen in den USA günstig telefonieren können. Oft ist die Verschuldung immens.“

Marcela ist seit 4 Jahren als Haushaltshilfe in einer Familie tätig. Sie versorgt tagsüber die demente Großmutter. Erreicht sie nach 17.00 Uhr ihr Zuhause am Stadtrand Oaxacas, warten Erziehungs- und Hausarbeiten. Neben den minderjährigen Söhnen wohnt die Tochter mit ihrem schwerstbehinderten Kind im Haus. „Ich bin nur 6 Jahre zur Grundschule gegangen und hoffe, dass meine Kinder es besser haben. Mein Mann arbeitet in einer Schlachtfabrik. Zu Hause macht er nichts und lässt mich mit der Kindererziehung allein. Dies ist eben Machismo in Mexiko.“

Taxifahrerin Libertad fährt seit 6 Jahren ein Motorradtaxi, vor allem vormittags, während ihre 3 älteren Kinder zur Schule gehen. Ein Baby liegt auf der Rückbank im Kindersitz. Als Alleinerziehende fehlt es Libertad an Betreuung. „Gut, dass meine 13-jährige Tochter auf den kleinen Sohn aufpasst, sobald sie aus der Schule kommt.“ Das Taxi ist angemietet, ein Teil der Einnahmen geht an den Besitzer.“

Der 59-jährige Lehrer Francisco steht kurz vor der Rente. Das sei nach 30 Berufsjahren möglich. In einjährigen Qualifizierungskursen unterrichtet er Erwachsene, die als Maurer arbeiten wollen. „Ich bin froh, dass ich diese Regelung noch in Anspruch nehmen kann, weil durch die Erziehungsreform das Alter auf 68 Jahre angehoben wird.“ Um die erwartbar bescheidene Rente aufzubessern, unterhält er einen Taco-Imbiss in seiner Garage, unterstützt durch die jüngste Tochter. Francisco ist aktiver Gewerkschaftler in der oppositionellen Lehrergewerkschaft „Sección 22“, die sich von der regierungskonformen Lehrergewerkschaft militant abgrenzt. Er berichtet von dem Lehrerstreik 2006, an dem sich ca. 40.000 Lehrer_innen beteiligten und der sich zu einem mehrmonatigen Volksaufstand gegen den Gouverneur des Bundesstaates ausgeweitet hat.

Rosilla sichert in Mexiko- Hauptstadt ihren Lebensunterhalt als selbständige Taxifahrerin mit eigenem Fahrzeug ab. Selbstbestimmt entscheidet sie über ihre Arbeitszeiten. „Nachts fahre ich als Frau grundsätzlich nicht. Dann ist es zu gefährlich. Meistens fahre ich für feste Kunden. Immer wieder rauben Fahrgäste die Fahrer aus.“

Techniker Fernando arbeitet seit 10 Jahren bei der Restaurantkette Sanborns, die dem reichsten Mann der Welt, Mexikaner Carlos Slim gehört. Seit Kurzem wehe – wohl ausgelöst durch die verschärfte Konkurrenz im Gastronomiesektor – ein neuer Wind. Arbeitsgruppen zu Fragen der Entlohnung, Arbeitssicherheit, Gesundheit und Fortbildung wurden eingerichtet. Erstmals entließ man sogar unfähige und autoritäre Chefs. Fernando freut sich, nun während der Arbeitszeit an Fortbildungen teilzunehmen. „Die Gewerkschaft ist noch skeptisch“. Sie wittere hinter der „Kuschelstrategie“ eine neue Form der Verdichtung von Arbeit und Ausbeutung.

Modedesignerin Irma arbeitet in einem Familienbetrieb am anderen Ende der Megacity Mexiko. Nach 10 Stunden Arbeit quert sie die Stadt in der Metro und oftmals überfüllten Bussen.
„Deshalb habe ich in der Woche so gut wie keine Zeit für meinen 8-jährigen Sohn. Auch die ehrenamtliche Arbeit in der Basisgemeinde ist kaum möglich, zum Beispiel die Müllsammlungen. Wir ersticken an Plastikmüll.“

Paz hat ihr Studium der klinischen Psychologie vor 12 Jahren wegen der Kinder unterbrochen. 48-jährig setzt sie ihr Studium unter vielen jungen Student_innen fort. Paz hofft, sich als Therapeutin niederzulassen. „Hier gibt es so viele häusliche Gewalt gegenüber Frauen und Kindern, mir liegt eine gewaltfreie Kommunikation sehr am Herzen“.

Pädagogin Ericka hat nach dem Studium im Auftrag des Ministeriums Erzieherinnen fortgebildet. Gleichzeitig engagierte sie sich in der kirchlichen Jugendarbeit. Mit der Geburt ihrer beiden Söhne gab sie die Berufstätigkeit auf. „Die Gefahren für Kinder und Jugendliche hier in Mexiko- Stadt sind durch die Drogenkriminalität einfach zu hoch. Wir diskutieren mit der Familie ein Wohnprojekt in Südmexiko, 7 Busstunden entfernt nahe Oaxaca zu gründen. Das Terrain und die Mitbewohner_innen haben wir schon in Aussicht. Aber ob die Kinder mitgehen, wird sich zeigen. Auch ließen wir unsere großen Familien in Mexiko-Stadt zurück. Wir sind Chilangos, also Hauptstädter.“

Soziologe Hector arbeitet an einer staatlichen Hochschule als Koordinator und persönlicher Referent im Leitungsstab. Eigentlich macht ihm seine Arbeit Spaß, auch wenn er an 6 Tagen der Woche mehr als 10 Stunden arbeitet und weite Fahrtwege hinzukommen. Stress verursacht derzeit ein Vorgesetzter. Dieser vertrage kein kritisches Feedback. „Die Universitäten sind hier noch immer sehr hierarchisch strukturiert. Wenn ich einen Fehler mache, kann mich dies den Kopf kosten. Aktuell ist die Unispitze sehr nervös, weil es erstmals zu Anzeigen von Studentinnen, ausgelöst durch die Me-Too Debatte – gekommen ist, die Professoren wegen sexueller Übergriffe anzeigten. Wie die Sache ausgehen wird, ist derzeit noch offen.“

Leticia, Ende vierzig und Mutter von 3 erwachsenen Kindern hat mehrere Ausbildungen als Krankenschwester und Therapeutin absolviert. Aktuell bildet sie sich im Feld der Gerontologie weiter. Im Rahmen ihres Studiums arbeitet sie in einem privaten Altersheim. „Ich habe schon viel Trauriges in den staatlichen Altenheimen gesehen. In dem privaten Heim scheint es mir erträglich. Die Bewohner_innen haben Geld, sonst könnten sie sich das Heim nicht leisten, aber eine Begleitung von Angehörigen findet kaum oder gar nicht statt. Im Gegenteil- Kinder rauben ihre Angehörigen aus, wir müssen sie anzeigen. Trotzdem, die Arbeit ist o.k. und ich bereue nicht, diesen Weg mit Zukunft zu gehen. Mexiko entwickelt sich zu einem Altenheim, nur noch wenig Kinder werden geboren.“

Ein Polizist in Mexico verdient den Zeitungen zufolge rund 4.000 Pesos (200 €) monatlich. Von diesem bescheidenen Salär finanziert er zudem seine Dienstunform selbst. Oftmals sind Schmiergeldzahlungen nötig, um den begehrten Job zu bekommen. Bei einer hitzigen nächtlichen Diskussion zum Thema Korruption und Reform der Polizei wirft Mauricio ein. „Die Jungs müssen im Stadtviertel oftmals den Kopf hinhalten angesichts der gestiegenen Gewalt und Drogenkriminalität. Verwundert es da, dass die Polizisten sich schmieren lassen und ihre Stellung schamlos ausnutzen?“

Rebecca (23 Jahre) hat ihr Studium als Tänzerin erfolgreich beendet. Sie ist sehr an allen Formen von Kunst und Kultur interessiert. Sie lebt in der Hauptstadt, genießt ihre Freiheiten in der Großstadt, besucht aber regelmäßig ihre alleinstehende Mutter in Oaxaca. Die junge selbstbewusste Frau gibt uns zu verstehen: „Ein Macho als Partner kommt für mich nicht in Frage.“ Rebecca jobbt als Tanzlehrerin und tanzt unentgeltlich in einem Ensemble. Nachdem wir ihr vom Open Ohr Festival erzählt haben, sagt sie spontan. „Ach das wäre mein Traum, nach Deutschland zu reisen, um dieses Festival zu erleben.“

Adan ist Maler und Poet. Sein Freund Roberto hat Fotografie studiert. Beide Künstler, Mitte 20 leben mehr schlecht als recht von freiberuflichen Aufträgen. Ihr Herz schlägt für Kunst. „Oaxaca ist für uns das Paris Mexicos, Kulturförderung und Austausch mit Menschen aus aller Welt.

Die phantastischen Fotographien von Roberto finden sich hier:

Juan José und Emilia seine Frau sind Tagelöhner und stellen Lehmziegel zum Häuserbau her. Um wöchentlich 110 Euro zu verdienen, müssen sie 4000 Ziegel für ihren Patron herstellen. „Wir haben nichts anderes gelernt. Was sollen wir sonst tun? Hier gibt es doch keine Arbeit.“

Die 15-jährige Sekundarschülerin Julia lebt im Fischerdorf Coreleos an der Pazifikküste. Spannender als in die Schule zu gehen findet sie es, „Gringos“ kennenzulernen. Sie fängst uns an der Bushaltestelle rechtzeitig vor der Konkurrenz ab, um uns anschließend mit dem Schnellboot über die Lagune zum Strand bringen zu lassen. Dort wartet ihr Vater auf uns, um uns eine Cabana (einfache Hütte) zu vermieten und frischen Fisch anzubieten. Eine der ersten Bemerkungen ihres nur vermeintlichen Vaters und geschäftstüchtigen Partners ist: „Mein Name ist Felicisissimo. Ich habe 10 Kinder von 6 verschiedenen Frauen. Nein, Julia ist nicht meine Tochter“.

Die Fischer von Coreleos, einem kleinen Dorf  an der Pazifikküste mit einem hohen Anteil von afromexikanischen Bewohner-innen, haben ein bescheidenes Einkommen  durch den Verkauf der Fische in der nahegelegenen Provinzstadt sowie durch Selbstversorgung. „Wir brauchen hier nicht viel zum Leben. Aber unser Hauptproblem sind die gestiegenen Wassertemperaturen in der Lagune. Dadurch wandern die Fische ab und es wird immer schwieriger für uns zu fischen. Außerdem streichen die Fischhändler in der Stadt den Hauptgewinn ein. Für uns Fischer bleibt da nur wenig übrig.“

Vieles würde im Alltag zerbrechen, wenn es nicht zahlreiche Menschen gäbe, die im Rahmen von ehrenamtlicher Arbeit versuchen, ein Stück Solidarität und Gemeinschaftlichkeit zu bewahren und dem alltäglichen Stress eines nicht funktionierenden Staates durch konkretes Handeln entgegenzuwirken. Wir treffen auf viele Menschen, die sich im Stadtviertel, in der kirchlichen Arbeit oder in zivilgesellschaftlich Gruppen engagieren.

Die Dorfbewohner_innen des Badeortes Mazunte reinigen am Sonntag—-vormittag die Straßen. Schließlich erwartet man am Wochenende 10 000 Besucher_innen des Jazzfestivals. Tequio heißt die unentgeltliche Gemeinschafts-arbeit in indigenen Kommunen.

Im Rahmen eines viertägigen Seminars werden Gesundheitspromotorinnen geschult. Der Umgang mit Krankheiten und die Gesundheitsprävention sind Themen. Gegen ein kleines Entgelt bilden sie in ihren Dörfern das Bindeglied zwischen der oft sehr armen Landbevölkerung und dem (unterversorgen) staatlichen Gesundheitsposten. „Eines unserer Hauptprobleme ist die dramatisch steigende Zahl an Übergewichtigen aufgrund schlechter Ernährungsgewohnheiten und hohem Zucker- und Fettkonsum.“

Cecilia studiert Kommunikationsdesign an der staatlichen Hochschule UNAM. Im Rahmen aller Studiengänge sind Sozialpraktika vorgesehen. So arbeitet die Studentin als Fremdenführerin für Besucher_innen des Universitätscampus, der u.a. mit seinen Wandmalereien als Weltkulturerbe anerkannt ist.

Marihuana in Hand der Frauen

19.11.2018 -7 Stunden dauert die Busfahrt von Mexiko- Stadt nach Oaxaca. Unterwegs geraten wir unvorhergesehen in eine Straßensperre. Arbeitnehmer _innen wurde die Lohnauszahlung verweigert. Sie blockieren die Autobahn in beide Fahrtrichtungen. Transparente demonstrieren den Grund der Empörung. Die Verkehrsteilnehmenden nötigt man zu einer eher symbolischen finanziellen Unterstützung. Umgerechnet 5 Euro zahlt unsere 50-köpfige Busgemeinschaft gemeinsam.

Zurück im rebellischen Oaxaca fängt uns Alejandro bereits an der Haustür ab und entführt uns im warmen Spätnachmittagslicht an den Fuß des Monte Albans. Unter dem grünen Hügel schlummern 90 Prozent der einstigen zapotekisch- mixtekischen Hauptstadt, Relikte aus Blütezeiten zwischen 300 und 900 nach Christus.  Hunde bellen, Grillen zirpen, der mexikanischen Gegenwart zugewandt biegen wir zu einem Wohnhaus ab.

Auf einer Feuerstelle köcheln Marihuana und Knoblauch. 20 Menschen fanden sich auf einer Veranda zusammen. Die Basisgemeinde des Stadtteils Montoya bietet regelmäßig Workshops zu religiösen und alltagspraktischen Themen an. Heute geht es um Naturheilverfahren. Der Knoblauch duftet. Das Wundermittel hilft bei Entzündungen der Haut, Abszessen, Akne, Herpes, Haut- und Nagelpilzpilz. Es schützt vor Mückenstichen sowie Hautkrebs. Knoblauchsalbe hält die Haut natürlich jung. Durch reichliche Zugabe an Vaseline verzaubert Gesundheitsberaterin Adelfa das siedend heiße Marihuana in ein wirkames Schmerzmittel. Die Pflanze darf zu medizinischen Zwecken in privaten Gärten kultiviert werden. 2019 sollen Konsum und Anbau entkriminalisiert werden.

Adelfa gibt tradiertes Wissen an die Teilnehmerinnen weiter.

Lange Arbeitstage und mangelndes Engagement hielten die Männer oft ab, sich an den Aktivitäten der Basisgemeinde zu beteiligen, sagt uns Susana, Koordinatorin für die Regionen Oaxaca und Chiapas. Sie unterstützt und begleitet die 5 Basisgemeinden Oaxacas, die Kirche anders und praktisch (er)leben.

Die Bewahrung der Schöpfung, z. B. über alternative Heilmethoden und Naturkosmetika geht einher mit der Kostenersparnis für teure Pharmaprodukte.  Ein Mindestlohn von 79 Pesos alias 4 Euro pro Tag frisst das Haushaltsbudget vieler Familien. Ungeschützte Arbeitsverhältnisse lassen nicht mit einem Monatseinkommen rechnen.

„Aprendieron algo- habt ihr was gelernt?“, vergwissert sich Adelfa, in der Sorge, ob die Frauen das erworbene Wissen in das Alltagshandeln umsetzen und an nachfolgende Generationen weitergeben.
Darüber hinaus üben die Frauen, sich jenseits der Amtskirche solidarisch zu organisieren, die Botschaften der Bibel im Alltagshandel zu überprüfen. Das Verhältnis zur sehr konservativen Amtskirche sei eher angespannt, hören wir. „Wenn eine Frau in Hosen zur Kommunion erscheint, verweigert unser Priester im Barrio hier diese. Er spricht nicht mit uns auf Augenhöhe und hat wohl Angst vor dem Autoritätsverlust“.

Seit sich indigen geprägte Basisgemeinden 2006 aktiv am Volksaufstand in Oaxaca beteiligten, sind sie bei der Amtskirche in Ungnade gefallen. 26 Tote, viele Verletzte, Verhaftungen – und ein tiefer Riss zur Amtskirche waren Folgen. Die Frauen wurden als „Terroristinnen“ gebrandmarkt.

Eine entsprechende Unterstützung fehlt. Es braucht Kraft und Mut zur Selbstorganisation und Emanzipation. In Oaxacas Kathedrale hängt noch immer der polnische Papst Johannes Paul II, als ob es Papst Francisco nicht gäbe. Die Basisgemeinden kämpfen mit dem Kazikentum auf allen Ebenen- viele Frauen nehmen einerseits an den Angeboten der Basisgemeinden teil, andererseits unterwerfen sie sich den priesterlichen Autoritäten. Evangelikale und pfingstlerische Freikirchen drängen in die Barrios. Nicht zuletzt hadern die Frauen mit dem häuslichen Machismo.

Unsere Freundin und ehemalige Mitbewohnerin Brenda ergreift am Ende das Wort. Sie spannt den Bogen zu ihrem Aufenthalt in Deutschland, der sie für die Notwendigkeit eines ökologischen und nachhaltigen Lebensstils verstärkt sensibilisiert habe. Brenda appelliert an die Eine Welt, die ein solidarisches Miteinander brauche. Migration ermögliche es, voneinander zu lernen, Konzepte der Moderne in Frage zu stellen, weltweit gemeinsam nach Lösungen zu suchen, um den Planeten zu schützen und auch Zugewanderten human zu begegnen, gleichgültig ob es um die Karawanen aus Zentralamerika oder Kriegsgeflüchteten aus Syrien und Afghanistan in Deutschland gehe.

Die Versammlung schließt mit einem Gebet. Gerührt von Brendas Worten und berührt vom Engagement der Gemeindemitglieder verabschieden wir uns herzlich.

„Bleib ruhig und lauf so schnell du kannst“

Unsere Rucksäcke stellen wir in Dona Juanitas Küche ab, ein heimeliger Ort, den wir während unserer 6 Tage in der unruhigen Hauptstadt Mexikos als ein Zuhause schätzen lernen. „Es tu casa- es ist dein Haus“, begrüßt uns die pfiffige 72-jährige herzlich. Das Terrain bewohnt sie seit dem 1. September 1971. Hunderttausend Menschen, die vor widrigen Lebensbedingungen flüchteten, fanden mit ihr eine Bleibe in der Steinwüste am damaligen Stadtrand.

An der größten Landbesetzung, die jemals in Lateinamerika stattfand, beteiligten sich Menschen aller Regionen. Das Viertel galt von Anbeginn an als Schmelztiegel indigener Kulturen. Die Regierung vergab die Landtitel moderat, eher heftig gestalteten sich Auseinandersetzungen untereinander, um das nachbarschaftliche Miteinander für die Kommune zu entwickeln. „Das strengte an und bleibt bis heute schwierig“, berichtet Dona Juanita, die engagiert an Bürgerversammlungen teilnimmt, z. B. um Stromerhöhungen auszubremsen oder für die gerechte Verteilung des Wassers zu kämpfen.

El Pedregal de Santo Domingo, Steinwüste heißt das Viertel. Ein halbes Jahrhundert später kennt es aufgrund der dichten Bebauung wiederum kaum Grünflächen.

Die sozialen Verwerfungen haben sich in den letzten Jahren verschärft. Vís a vis´ von Juanitas Haus dealen junge Männer. An den Wochenenden gebe es viele Betrunkene, warnt uns Juanitas Schwiegertochter Ericka. „Verlauft euch nicht. Anfangs hatte ich stets Angst, in einer der Sackgassen zu landen, überfallen zu werden.“

An einen Umzug ist aufgrund der hohen Bodenpreise nicht zu denken. Das Haus wurde entsprechend aufgestockt. Dona Juanita lebt in der Wohnküche, zwei Söhne mit ihren jeweils vierköpfigen Familien im ersten und zweiten Stock. Sohn Hector, von Beruf Soziologe betont die Wichtigkeit im Viertel zu bleiben, um nicht den Banden die Straße zu überlassen.

Auf einem Spaziergang durch das Viertel entdecken wir Schuhe, eulenspieglerisch in Stromkabel hoch über uns verknotet. Ein derber Jugendstreich?

Unsere Gastgeber eskortieren uns am ersten Tag auf Schritt und Tritt, als seien wir willkommenes Haifischfutter für korrupte Taxifahrer und Taschendiebe in der drängend engen Metro, wichtigstes Transportmittel für 22 Millionen Einwohner_innen. Selbst wenn die Kinder in spezielle Schulbusse steigen, reisen Familienangehörige mit- groß ist die Unsicherheit vor kriminellen Umtrieben, Entführungen und Erdstößen.

Das Leben mit den Beben: Die Westküste des amerikanischen Doppelkontinents gilt als hochgradig seismisch gefährdet ist. Zudem errichteten einst die Azteken ihre Hauptstadt Tenochtitlan, das heutige Mexiko auf einer ausgedehnten Seenplatte. Der sumpfige Untergrund löst verstärkt die Erdstöße aus.

Ein doppeltes Trauma: Am 19. September 1985 starben über 10 000 Menschen, eine viertel Million wurde obdachlos. Während der Gedenkfeiern im Jahre 2017 erzitterte die Erde am gleichen Tag erneut für eine Minute mit verheerenden Folgeschäden.

Seitdem nähmen die Bewohner_innen endlich die 1991 installierten Alarmsysteme und Katastrophenübungen ernst, erklärt uns Gastgeber Pedro. Der besorgte Familienvater arbeitet in einem Betrieb für seismische Alarmanlagen. Auch sein Privathaus verfügt über eine solche. „Wenn es piept, bleibt ruhig. Rennt vor die Tür. Ist es zu spät, kriecht unter den Tisch.“

Pedros und Paz` Kinder kennen die Anweisung. Manchmal bliebe kaum mehr als eine halbe Minute Zeit. Paz ergänzt, leider hätten sich Lehrerinnen bei der Evakuierung 2017 vollkommen überfordert gezeigt, vor den Kindern weinend, obgleich diese die Regeln kannten.

Schmiergelder machen es möglich, dass allenthalben auf gefährdeten Flächen Baugenehmigungen erteilt werden. Anwohnende und Umweltschützer_innen protestieren seit über 17 Jahren heftig gegen den bereits zu 20 Prozent fertiggestellten neuen Hauptstadtflughafen, für den der See Texcoco weichen musste.

Eine vom neuen Präsidenten AMLO initiierte Volksbefragung zum Flughafen im Oktober 2018 konnte die ökologische Katastrophe vorerst ausbremsen. Weitere Rechtsauseinandersetzungen stehen an.

Mexiko-Stadt wächst, dürstet, schwankt und wackelt. Grundwasserbohrungen destabilisieren den Boden, jahrausendalte Grundwasserspeicher werden angezapft, bis zu 400 Meter tief ins Erdreich. Planungen sehen Bohrungen bis zu 2000 Meter Tiefe vor. Der Boden weicht auf, Arsen und Fluorsalze vergiften das Grundwasser und gefährden die Gesundheit über die seismischen Bewegungen hinaus.

Die Stadt ist weltweit Spitzenreiter im Verbrauch von Wasser aus Plastikflaschen. Ganze Stadtviertel sind auf Tankfahrzeuge angewiesen, die teures Wasser von privaten Anbietern liefern.

Zudem ist die Verteilung des öffentlich zugänglichen Wassers ungerecht. Der  subventionierte Wasserpreis erlaubt den Reichen der Stadt die Verschwendung für Gärten und Schwimmingpools.

Prognosen zufolge kann die Stadt im Jahr 2030 nurmehr für die Hälfte der Bewohner Zugang zu Wasser garantieren. Schon jetzt fließen pro Sekunde 62000 Liter Wasser durch teils undichte Rohre. Dabei geht ein Drittel des kostbaren Wassers verloren.

Ein im Bau befindliches gigantisches Abwasser- und Klärwerkprojekt im Norden der Stadt soll Lösungen liefern.

https://www.ila-web.de/ausgaben/418/der-giftgürtel-ist-nur-ein-problem-von-vielen (aufgerufen am 17.11.2018)

Wir zittern – angesichts der Fakten, die uns ins Bewusstsein rücken, zugleich wegen der nächtlichen Kälte knapp über dem Gefrierpunkt. Die Hauptstadt liegt 2200 Meter über dem Meeresboden. Unsere Schuhe quatschen von den fortwährenden Regengüssen.

Eingepfercht in die Metro Linea 3 wärmen wir uns auf. Zurück in Santo Domingo, entzündet Juanitos humorvolle und warmherzige Großfamilie am Küchentisch unser Lachen.

Um 17:00 Uhr ziehen wir mit Dona Juanita zur Bürgerversammlung weiter. Heute geht es um das Menschenrecht auf die Energieversorgung und die Senkung des Strompreises. 2 Autos quergestellt versperren die Durchfahrt, flugs ist der Versammlungsraum für die ca. 80 Teilnehmenden parat.


Out of booking.com

In flirrender Hitze spuckt uns der Kleinbus aus. Um 12:00 Uhr am Mittag setzt uns der Fahrer vor einem Hotel in schrillem Rosa aus. Durch die Stadt mit dem merkwürdigen Namen Pinotepa Nacional führt die Drogenroute von Süden kommend. Wir zweifeln, dass wir uns hier wohlfühlen können. Schon beim Einstieg in den Bus vergewisserte sich der Fahrer mehrfach ob unseres Reiseziels. Gerne hätten wir am Vorabend in aller Ruhe eine Unterkunft reserviert. Die gängigen online- Buchungsportale scheinen die Stadt mit 50 000 Einwohnern zu meiden.

Während wir bei 35 Grad ohne Schatten unentschlossen auf dem Gehweg vor dem Bonbonhaus verharren, beschimpft uns wild gestikulierend ein vermutlich psychisch kranker Mann. Das ist unsere erste unangenehme Begegnung nach 3 Wochen mit wunderbar freundlichen Menschen in Mexiko.

Was wir hier suchen? Ebi entdeckte in der Zeitung die Ankündigung. Die Universidad de la Costa lädt zu einer Woche der afromexikanischen Kultur ein. Neben Workshops freuen wir uns auf Jorge Perez Solano, Regisseur und Drehbuchautor. Sein neuer Film La Negrada über schwierige Lebensbedingungen der Afromexikaner_innen wird im Drehort Pinotepa präsentiert.

Unsere Freude auf ein cineastisches Erlebnis steigert sich in der Erwartung, gemeinsam mit den Menschen, um die es geht, vor der Leinwand zu sitzen. Unwillkürlich denken wir an Edgar Reitz und seine Heimatfilme über den Hunsrück.

Schon eine Stunde später lauschen wir im klimatisierten Hörsaal einer Menschenrechtsaktivistin. Hilda Guillén Serrano präsentiert vor ca.250  in blau-weiße Schuluniformen gekleidete Student_innen ein Projekt. Das Erdbeben vom Februar 2018 hatte in den afromexikanischen Gemeinden nahe der Pazifikküste viele Häuser zerstört. Das Projekt sucht Zugang zu Frauen.

Mit Brennholz betriebene Holzöfen und Feuerstellen aus Stein sollen wiederaufgebaut werden. Sie gelten als zentrale Orte zur Ernährung der Familien, auch um über die Kochkunst die Kultur zu bewahren, identitätsstiftend zu wirken und Frauen gleichzeitig zu demokratischer Teilhabe zu befähigen. Resilienz ist ein Ziel. Traumatische Erfahrungen mit den Erdstößen wie mit den Beben durch häusliche Gewalt hemmen die Emanzipationsprozesse. „Bewegt euch, umarmt euch, hört euch zu und vor allem überwindet die Angst“ , ist das Credo der Referentin für einen ganzheitlichen Bildungsansatz.

Die Universidad de la Costa wirkt auf uns bei 35 Grad Außentemperatur wie eine Oase. Auf dem weitläufigen 2013 gegründeten Campus unter Bäumen studieren zurzeit 500 Student_innen Krankenpflege, Agroingenieurwissenschaften, Veterinärmedizin, Industriedesign und Betriebswirtschaft, betreut von 23 Dozent_innen.
http://www.uncos.edu.mx

Der akademische Vizedirektor Dr. José Hernández Hernández nimmt sich Zeit für unsere Fragen.

Die gebührenfreie Universität mit Präsenspflicht von 8:00 Uhr bis 19:00 Uhr bildet Fachkräfte der Region aus, deren Erstsprache mixteco, chatino  und amuzgo ist.

Die Hochschule schafft Räume für interkulturelle Begegnungen. Menschen unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft studieren gemeinsam an einer staatlichen Hochschule. Mit der afromexikanischen Woche entsteht ein Forum, das die kulturellen Besonderheiten, sozialen Lebensbedingungen und politischen Interessen der Bevölkerungsgruppe, im universitären Rahmen sichtbar macht. 1,3 Millionen, d.h. ein Prozent mexikanischen Bevölkerung sind Nachfahr_innen ehemaliger Sklaven, bis heute unter prekären Bedingungen lebend. Ihre Kultur wird auch von der mexikanischen Gesellschaft kaum wahrgenommen, geschweige denn wertgeschätzt.

Fern der Stadt Oaxaca, unmittelbar an der Grenze zum konfliktiven Bundesstaat Guerrero mit seiner Hauptstadt Acapulco gelegen, studieren hier gleichviele Männer wie Frauen. Seit es auf dem Land Universitäten gebe, seien die Studienabbrecherquoten auf 15 Prozent gesunken.

Dr. Hernandez zeigt sich überzeugt von seinem Konzept der engen Führung. Die jungen Menschen sollen sich nicht verlieren, sich anstrengen und für ihre gute Ausbildung Selbstverantwortung übernehmen. Der Einsatz werde beim späteren Berufseinstieg in den lokalen Arbeitsmarkt belohnt. Er gibt an, 90 Prozent fänden anschließend einen Arbeitsplatz. Junge Studentinnen, mit denen wir später auf dem Flur sprechen, zeigen sich skeptischer. Sind die Prognosen verfrüht? Die Universität ist jung, ein Studium der Veterinärmedizin erstreckt sich über 5 Jahre, die ersten Absolventen verlassen soeben die Hochschule.

Auf alle Fälle habe die Hochschule klare Regeln und einen guten Ruf, die positive Einstellung zur Arbeit zu fördern. Wer Drogen konsumiere, fliege sofort. Wer mehr als 15 Prozent Fehlzeiten aufweist, erhalte keinen Abschluss. Bei Fehlverhalten werde das Stipendium von 1700 mexikanischen Pesos (85 Euro) gekürzt, das fast allen Studierenden für Transportkosten und Unterhalt zusteht.

Dr. Hernandez, von Hause aus Ökonom, möchte in den kommenden 5 Jahren die Zahl der Studierenden und der Dozent_innen verdoppeln sowie die Kooperation mit den Betrieben intensivieren.

Der Dozent Felipe aus Kolumbien, seit 2 Monaten als Agraringenieur angestellt an der veterinärmedizinischen Fakultät, veranschaulicht Kooperationsmöglichkeiten an einem Beispiel. Die Campesinos leben von Tierzucht, sie verkaufen bereits die jungen Rinder, auch weil die trockenen Böden nur begrenzt Weideland bieten. Den eigentlichen Gewinn machten Viehhändler und Mastbetriebe im Norden. Forschung und Lehre suchen hier neue Wege für die lokale Landwirtschaft. Zugleich ist auch hier drängend, den illegalen Holzeinschlag zur Gewinnung von Weideland auszubremsen. In der Trockenzone fallen weniger als 800 mm Niederschläge jährlich bei steigender Tendenz.

Die Rinderzucht als Einkommensquelle- schon auf der Anreise nach Pinotepa Nacional sahen wir viele Herden auf Schneisen weiden, in den dichten Wald gerissene Wunden.

Wer sind die Dozent_innen, die laut Dr. Hernandez ein hartes Assessment durchlaufen? Auf die Lehrprobe folgt ein Interview, anschließend ein psychologischer Test. Arbeitssuchende promovierte Wissenschaftler aus ganz Mexiko und Nachbarländern bewerben sich- und die stete Herausforderung bleibt, sie mittelfristig in der Region zu halten. Auch darum hofft Dr. Hernandez, das akademische Niveau zu erhöhen und attraktive Forschungsstellen einzurichten.

Mit Interesse nimmt der Vizedirektor die https://blauemurmel.blog zur Kenntnis. Wir versprechen, ihm eine spanische Übersetzung unseres Berichtes über die Küstenuniversität und spüren seine Suche nach einem verstärkten internationalen Austausch. Es mangelt den Student_innen an englischen Sprachkenntnissen. Dozent_innen mit der Erstsprache Englisch zögen jedoch oft bereits nach einem Semester weiter.


Die Uhr ist auf 17:00 Uhr vorgerückt. Das Programm schließt mit Tänzen auf der Bühne des Auditoriums ab. Talentierte Musikgruppen begleiten den Fandango und trommeln zur afrikanisch geprägten Musik. „Baile director, baile, tanz “, johlen vergnügt die an Zehntklässler erinnernden Student_innen im Saal.

Am Ende werden Dr. Hernandez, aber auch wir quietschvergnügt auf die Bühne gezerrt. „La danza libera el alma“- der Tanz befreit die Seele. Was für ein schöner Ausklang .

Zurück in der Stadt Pinotepa Nacional, die in der Dunkelheit schon weniger öde und staubig wirkt. Trotzdem entdecken wir überproportional viele kleine Spielsalons.

Aber auch hier kommen wir mit vielen freundlichen und an uns interessierten Menschen ins Gespräch. In der Stadtbibliothek arbeitet ein ehemaliger Buchhändler ehrenamtlich. Seine Liebe zur Literatur gibt er an junge Menschen weiter. Er versteht sich als Sisyphus im digitalisierten Alltag und vermittelt uns den Eindruck, dass er sich nicht unterkriegen lässt. Die Stadt braucht viele Leuchttürme.

Pinotepa bedeutet übrigens auf nahuatl „in Richtung des bröckelnden Hügels“- nachdenklich ziehen wir weiter.