Schwerbewaffnete Polizisten patrouillieren durch Tanger. Im bunten Markttreiben fehlen heute die ambulanten Händler_innen aus Senegal, Kamerun, Gambia und anderen Staaten südlich der Sahara.
Razzien finden in Wellen statt, um Migrant_innen ohne Aufenthaltsstatus aufzuspüren, ihre Wohnungen und Handys kurz vor dem Ziel der Hoffnung zu zerstören. Bei klaren Sichtverhältnissen zeigt sich Europa am Horizont. Die Grenzpolizei füllt jedoch Busse, um Menschen in der Wüste Südmarokkos auszusetzen, falls eine Abschiebung in die Heimatländer nicht möglich ist.
Im Januar 2019 gewährte die Europäische Union weitere 148 Millionen Euro für den Ausbau des Grenzschutzes und die Integration. Das Königreich Marokko wird verstärkt zum Türsteher Europas ausgebaut, seit sich mit dem Staatsverfall in Libyen und der Abschottungspolitik Italiens unter der Regierung Salvini die Fluchtrouten verschoben. Waffen, Zäune, Navigationsgeräte und biometrische Pässe bekämpfen keine Fluchtursachen. Vorerst erhalten tausende Gestrandete z. B. von Caritas International Überlebenshilfe. Einzelne schützt das Kirchenasyl.
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Die Kapuze habe ich fest über die Ohren gezogen. Der marokkanischen Mehrheitsgesellschaft mag die Geste gefallen. Ich schütze mich vor den Böen. Bei 80 km/h wurde der Fährverkehr über den Atlantik eingestellt. Die direkte Überfahrt vom südspanischen Tarifa nach Tanger hätte eine halbe Stunde gedauert. Seefeste Schiffe legen 45 km entfernt im modernen Seehafen Tanger-Med an, den Bauch gefüllt mit Sattelschleppern internationaler Logistikunternehmen.
Spanien ist für Marokko der wichtigste Handelspartner. Im Frühjahr queren grüner Spargel und Erdbeeren die Meerenge. Die traditionelle Textil- und Lederindustrie hat an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. Eine Kfz-Fertigungsindustrie, die Küsten- und Hochseefischerei sowie die Korkproduktion bieten Erwerbsmöglichkeiten.
Als Devisenbringer dienen landwirtschaftliche Produkte, Familien im Ausland, der Tourismus und vereinzelt Bodenschätze. Marokko wirft 75 Prozent des weltweit geförderten Phosphats auf den Markt. Die Verarbeitung findet auch im Land selbst statt, die eigene Chemie- und Düngemittelindustrie wächst.
Rückwärts reisen Kohle, Öl und Gas gen Marokko ein. Fossile Brennstoffe werden importiert. Ambitioniert klingt Marokkos Klimaziel für 2030, wenn Wind-, Solar-und Wasserkraft 50 Prozent des Stroms erzeugen sollen. Noch brummt das große Kohlekraftwerk Jorf Lasfar in El Jadida an der Atlantikküste, verantwortlich für ein Drittel des Stroms. Ökologischer Hoffnungsträger ist Ouarzazate, Weltmeister unter den Solarparks angesichts 365 Sonnentagen jährlich, 250 km südlich von Marrakesch. Dass zugleich die arme Landbevölkerung profitiert und nicht nur Batterien der EU gegen Devisen aufgeladen werden, bleibt zu hoffen.
Der afrikanische Nordzipfel: Der Spaziergang durch die engen Gassen der Medina beamt Reisende in den Orient. Datteln, Nüsse, Mandeln, farbenfrohe Oliven, Gewürzpulver, Apfelsinen, Saisongemüse, duftendes Brot, gerupfte Hühner, Kaninchen und blaue Keramik lachen. Ein leises „non merci, peut-etre demain“ genügt. Die Händler ziehen sich höflich zurück.
Verschmitzt lächeln ältere Männer. Die Jungen wirken eher abweisend, erschöpft von der Untätigkeit. Das Warenangebot übersteigt die echten Interessenten, die an den kalten Märztagen vorbeischlendern.
Die wenigen Frauen an den Marktständen vermeiden den Blickkontakt. Berberfrauen aus dem Rifgebirge bieten Petersilie, Knoblauch und Kopfsalat auf dem Boden ausgebreitet feil. Ihre geflochtenen Hüte muten asiatisch an.
In den Straßencafes rühren ausschließlich Männer im The de Mente, Marokkos stark gezuckertes Nationalgetränk. Selten verirrt sich eine Touristin hinzu. Morgens, mittags, abends treffen wir auf die gleichen Gesichter in den Cafes als Wohnstatt. Der prekäre städtische Arbeitsmarkt erzwingt den Müßiggang.
Möwenpick, Hotel Kampinsky, Hotel Intercontinental, Kasinos, Parkhäuser, breite Alleen- – Ungleichzeitig lebt Marokko, als Schwellenland und Land der Nomaden in der Wüste.
Im wasserreichen Nordwesten leben 45 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft. Der Sektor steht für ca. 17 Prozent der Wirtschaftskraft.
Auf 250 000 ha im Rifgebirge wird illegal Cannabis angebaut, das zu 70 Prozent den europäischen Markt beliefert. Geschätzt 1 Million Menschen leben mangels Alternativen von der Droge.
Casablanca, Rabat seien die weltoffenen modernen Städte. Ins eher konservative Tanger verirrten sich eher nur Durchreisende nach Europa, glaubt ein Senegalese, der sich vor Kurzem niedergelassen hat. Im Internet sehnt sich der französisch- marokkanische Filmemacher Nabil Ayouch in die liberale Gesellschaft der 80-ziger Jahre zurück, vor der streng religiösen Wende. Soeben wurde auch sein preisgekrönter Film Razzia im Heimatland verboten.
Trotzalledem reiben wir uns erstaunt in Tanger die Augen, wenn junge Frauen in Tigerhosen durch die Stadt spazieren, auf großwandigen Plakaten westlich gekleidete Frauen für Konsumartikel werben, ein feministisches Frauenfilmfestival ins Programmkino zu Barbara Streisand und Maria Stuart einlädt.
Fatima Mernisssis Analysen zu den Frauen im Islam liegen auf dem Büchertisch. Studentinnen lassen teils das Haar im Wind flattern, während sie untergehakt mit ihren kopfbetuchten Müttern am Stadtstrand flanieren.
Hatten wir die Rufe der Muezzins und prächtige Moscheen erwartet, so überraschen die vielen christlichen Kirchen und Klöster, die Synagoge, der große jüdische Friedhof Tangers als Zeichen eines jahrhundertealten Miteinanders der Religionen. Seit 1492 leben aus dem Spanien der Reconquista vertriebene Juden in Tanger. Bis zur Unabhängigkeit Marokkos 1956 gehörte die Stadt zum spanischen Protektorat unter katholischem Einfluss. Die sakrale Architektur belebt das Stadtbild. Freitag als Feiertag? Sabbat ein Ruhetag? Den Sonntag heiligen?
Anything goes hat es den Anschein, als ob jeder den Tag seiner Facon heiligen könne. Ein Seufzen und Schmunzeln. Frühmorgens gegen 5:00 Uhr rüttelt uns der Muezzin wach. Unser Hotel am Petit Socco liegt gegenüber einer schönen Moschee in der Altstadt.
Nebenbei genießen wir, uns bestens zu verständigen. In Tanger dominiert weiterhin das Spanische als Kolonialsprache. Das Institut Cervantes, Schulen, ein spanisches Theater halten die Tradition im babylonischen Stimmengewirr wach. Französisch? Spanisch? Englisch? Arabisch? Tamazight als Sprache der Berber? Jeder Kontaktversuch ist ein Testlauf, das Spanische oft von Erfolg gekrönt.
„Sauerkraut, choucroute“ sagt Sprachtalent Ebi aus Versehen im Versuch, sich mit einem arabischen Shokran beim Koch für den köstlichen Eintopf Tahine zu bedanken.
Der Spracherwerb als Bildungsfrage, Hundertausende brechen jährlich die Schule ab. In Klassenzimmern sollen bis zu 70 Kinder sitzen, qualifizierte Lehrkräfte fehlen. Unter den geschätzten 33 Prozent Analphabeten Marokkos ist der Frauenanteil hoch.
Tangers Jugend steht am Zaun mit Blick auf Europa. Ob Kinder in den Straßen aus Spiel oder Not um Essen betteln, lässt sich zuweilen nicht unterscheiden. Verlässlich wirkt die Studie des marokkanischen Rates für Wirtschaft und Soziales aus dem Jahr 2017. Landesweit hätten 1,4 Millionen Menschen zwischen 18 und 24 Jahren weder einen Schulabschluss noch eine Beschäftigung. Die offizielle Jugendarbeitslosigkeitsquote von 10 liege in der Realität weit über 40 Prozent.
„Wir sind Referendare und keine Terroristen“ schrieben Lehramtsanwärter auf ihre Transparente, als sie für bessere Arbeitsbedingungen streikten. Am 23. März trieben Wasserwerfer die Pädagogen auseinander. Berichtet wird von vielen Verletzten.
Obwohl wir nur wenige Tage durch das nördliche Marokko rollten, bleibt viel Positives haften: Die süßen Kuchen, das köstliche Essen, die Freundlichkeit der Menschen gegenüber uns Touristen, weite grüne Frühlingslandschaften, das öffentliche Verkehrssystem, die orientalischen Märkte, die maurische Architektur …
Die politische und ökonomische Situation bietet jedoch Anlass zur Sorge und viel Bitterstoff. Nein. Auch Marokko kann nicht als sicheres Herkunftsland bezeichnet werden.
Weiterlesen?
Zeitschrift Matices über Menschenrechtsverletzungen an der EU Außengrenze bei Ceuta y Melilla
https://www.matices-magazin.de/archiv/90/spaniens-suedgrenze/
(aufgerufen am 01.04.2019)
Deutschlandfunk Reportage 04.01.2019 zur Situation der Jugend
https://www.deutschlandfunk.de/arbeitslosigkeit-und-bildungsnotstand-marokkos-jugend-sucht.724.de.html?dram:article_id=437481 (aufgerufen am 27.03.2019
Spiegel- online vom 01.11.2017 zu Fluchtursachen nach dem Aufstand in Al Hoceima
http://www.spiegel.de/politik/ausland/flucht-aus-marokko-armut-und-gewalt-treiben-die-menschen-in-die-boote-a-1175904.html
(aufgerufen am 27.03.2019)
Amnesty International 2017/2018 zur Lage der Menschenrechte https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/marokko-und-westsahara
(aufgerufen am 27.03.2019)
Zeit-online zur Debatte um Marokko als sicheres Herkunftsland 28.11.2018
https://www.zeit.de/2018/49/sichere-herkunftsstaaten-abschiebung-marokko-maghreb-staaten-asyl
(aufgerufen am 27.03.2019)
Spiegel-online zum aktuellen Lehrkräfte-Streik 24.03.2019
http://www.spiegel.de/politik/ausland/marokko-sicherheitskraefte-attackieren-lehrer-mit-wasserwerfern-a-1259387.html
(aufgerufen am 27.03.2019)
Neue Züricher Zeitung über den Filmemacher Nabil Ayouch 11.07.2018
https://www.nzz.ch/feuilleton/marokkaner-verstecken-ihre-frauen-zu-hause-ld.1401931
(aufgerufen am 30.03.2019)