Die Welt hinter der Kurve

Zügig steuert Franziskanerpater Antonio die Camioneta durch die Serpentinen. Die angekündigten 1350 Kurven waren nicht scherzhaft gemeint. Wir meiden den Blick in den Abgrund und genießen die sattgrüne Gebirgslandschaft.

Der Tag wird anstrengend. Von der Stadt Oaxaca aus braucht es 5 Stunden bis zur Kommune San Jose in der Sierra Madre del Sur. Unterwegs führt die vor Kurzem geteerte Straße nur durch wenige Dörfer. Frauen und Kinder hüten Ziegen am Straßenrand. Nach 200 Kilometern durch die üppige Vegetation erreichen wir unser Ziel: Ein Rohbau.

Unterhalb des magischen Cerro Niebla (Nebelberg) mit seiner steten Wolkenmütze soll im August 2019 eine Schule eröffnet werden. Angegliedert ist ein Internat.

Mit Dynamit muss der Fels gesprengt werden, um das Terrain am steilen Hang zu ebnen. Schon für den Fußweg zum Franziskanerkloster braucht es 3 Stunden bei guter Kondition für Auf- und Abstiege und die Querung des Flusses per Hängebrücke. Eine Betonbrücke wurde bei einem Erdbeben vor 2 Jahren zerstört. Hurrikane treffen die Region ebenfalls. Den nahen Pazifik erahnen wir hinter der Bergkette.

100 Schülerinnen und Schüler sollen nach Abschluss der Sekundarschule ein dreijähriges berufliches Gymnasium für Kunst, Handwerk, Handel und Landwirtschaft besuchen. Der projektorientierte Unterricht folgt den staatlichen Lehrplänen bis hin zum Abitur und ergänzt gleichzeitig das Schulangebot um ein Reformjuwel- eine in der Region verankerte und vernetzte Schule, die Interkulturalität groß schreibt, zu einem selbstbestimmten Leben befähigen will, Wege aus der Armut aufzeigt und die gleichberechtigte Teilhabe an der Moderne ermöglichen soll, in Vergewisserung der eigenen kulturellen Wurzeln.

In den umliegenden 48 indigenen Gemeinden leben ca. 20 000 Menschen, überwiegend aus dem Volk der Chatinen, vereinzelt auch Zapoteken und Mixteken. Das weiterführende Schulangebot soll junge Menschen in einer Region halten, die stark von Abwanderung betroffen ist. Viele Familien sind oder fühlen sich von Rücküberweisungen aus den USA abhängig. Ein steigender Konsum an synthetischen Drogen wie z. B. Chrystal Meth, Alkoholismus, Männlichkeitswahn und familiäre Gewalt sind neben der Selbst- und Fremdausgrenzung ihrer indigenen Kultur die Begleitphänomene. Während Ältere chatin sprechen und sich kaum spanisch verständigen können (wollen?), produzieren die Jungen eine Mischsprache. Indigene Mythen koexistieren neben der katholischen Volksfrömmigkeit und den Sehnsüchten des 21. Jahrhunderts.

Die als Begegnungsort geplante Schule öffnet die Türen für Künstler_innen, Handwerker_innen und Campesinos als Lehrkräfte für den theoretischen und praktischen Unterricht. Der Austausch der indigenen Kulturen untereinander soll gefördert werden, gleichzeitig sind Lehrkräfte aus anderen Regionen Mexikos wie Freiwillige aus aller Welt willkommen, um das indigene Leben  mit den schwierigen Bedingungen kennenzulernen, zu teilen und einen interkulturellen Dialog auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Lässt sich so das Denken entkolonialisieren? Wir sind beeindruckt, wie unser Freund Alejandro Castillo über das Schulprojekt konsequent seine Mainzer Dissertation in Praxis umsetzt. Sein Engagement gilt der Autonomie der Indigenen. Der franziskanische Konvent in Oaxaca unterstützt das Projekt. Noch reichen die Lernausgangsvoraussetzungen in San Jose nicht, um gleich die Universität zu gründen.

Die Franziskaner finanzieren den Anschub, weitere Geldtöpfe sind zu öffnen, selbst wenn die Schule die Selbstversorgung in der Ernährung und der Energieversorgung anstrebt. Eltern, die das symbolisch geringe Schulgeld nicht tragen können, sind gebeten, sich zum Beispiel im Garten der Schule einzubringen. Neben den Baukosten für erdbebensichere Räume mit Sportgelände und Amphitheater sind Personal- und Sachkosten zu stemmen, u.a. für Solarpanele, Computer, Bücher über Pädagogik und Kunst, Wohnräume für die Lehrkräfte. Auch hier besteht Hoffnung auf den Regierungswechsel zu AMLO am 01.12.2018, auf die geplante Erziehungsreform und  finanzielle Zuwendung nicht für „die Armen, sondern die, die in die Armut gezwungen wurden“, korrigiert uns Projektkoordinator Alejandro.

Zum Mittagessen sind wir bei Franziskanerpater Ephraim eingeladen. Vor einem Jahr aus Rio de Janeiro kommend, von Beruf Krankenpfleger, Theologe und Psychologe lebt Fraile Ephraim mit anderen Franziskanermönchen als Seelsorger in der Sierra. Er steht in Verantwortung für das Gelingen des Schulprojektes und im Kontakt mit den Menschen der Gemeinde. Die Stille fasziniert ihn ebenso wie der gigantische Sternenhimmel. Die Stadt fehlt ihm nicht.

Wir löchern. Wie steht es um die Akzeptanz des Projektes vor Ort? Ist die Partizipation erwartbar? Wer sind die Bündnispartner und Multiplikatoren, die den emanzipatorischen Prozess unterstützen? Lassen sich trotz des starken Machismo die Frauen gewinnen? Sind es zunächst überwiegend Einzelpersonen? Sind die politisch Verantwortlichen der indigenen Strukturen bereits im Boot? Was ist zu tun, damit die Schule keine Idee bleibt, die von außen kommt?

Gekontert wird mit über 500 Jahren Erfahrung, befreiungstheologischen Ansätzen aus dem 16. Jahrhundert, der Verwurzelung in der Region. Fraile Antonio hat über 11 Jahre in der Sierra Madre del Sur gelebt und moderiert die Prozesse. Auch andern Ortes in Lateinamerika gelang es, erfolgreiche indigene Universitäten zu gründen. Das Rad wird nicht neu erfunden. Wir verabschieden uns von Fraile Ephraim mit allem Respekt für das engagierte und mutige Projekt und legen uns für die Rückfahrt erneut in die Kurve.

Aus dem MP3-Player von Fraile Antonios erklingen die Brandenburgischen Konzerte, das Abendlicht entspannt. Die Camioneta fliegt über den weitgehend intakten Asphalt.

Die Welt hinter der Kurve- hinter jeder Drehung entdecken wir eine neue Facette des bunten Mexiko.

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

Ein Gedanke zu „Die Welt hinter der Kurve“

  1. Ich verfolge aus dem fernen Afrika mit Spannung euren Reisebericht. Wie ihr schreibt: sprachlich etwas abgerüstet, was Reisen früherer Jahre ins „revolutionäre“ Lateinamerika angeht; sprachlich allerdings aufgerüstet und reflektiert, wenn ihr eure Begegnungen und Erfahrungen schildert. Vermutlich sind wir bei der Begegnung mit „fortschrittlichen“ Kräften in früheren Jahren auf die Wirkung von Versprechungen hereingefallen genauso wie die Massen, die jetzt unter den alten „líderes“ leiden. Unterschätzt haben wir die Kraft von Basisbewegungen, die sich ungeachtet politischer Veränderungen Selbstbewusstsein, Moralität und Engagement erhalten haben. Und es ist letztlich egal, ob es religiöse, politische oder auch Selbsthilfe-Motive sind, die ihr Handeln bestimmen. Dem auf der Spur zu bleiben, dies zu unterstützen: das lohnt allemal! Weiterhin gute Reise und Grüße aus Cotonou. Hans

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