Mexiko- Blues

Auf dem Tisch vor uns liegt die brüchige Landkarte mit Mexikos Wüsten, Regenwäldern, Ozeanen, Vulkanen, Gebirgen der Sierra, über- und unterirdischen Flüssen. Nur in 6 von 32 Bundesstaaten hinterließen wir Fußspuren. Chiapas, Oaxaca, Yucatán, Quintana Roo, Campeche und Ciudad de México heißen die lieb gewonnenen Puzzleteile. Die Karte zerfiel, stetig ausgeklappt, gewendet, im Dezemberwind flatternd, als Mückenklatsche missbraucht. So zerbröselte die kartographische Ordnung binnen unseres zweimonatigen Aufenthaltes.

Wehmütig schnüren wir unsere Rucksäcke. Nichts Böses widerfuhr uns. Kein Polizist verlangte eine Sonderzahlung, kein Taxifahrer zwang uns Extratouren auf, damit das Taxometer glüht. Am 17. Dezember verabschiedeten wir uns aus dem Land der Künstler_innen, Kreativen, Rebell_innen und Frommen. Adiós verrücktes México. Ojalá hasta luego, hoffentlich bis bald.

 

In Mexikos Silhouette verschwindet fünfeinhalbmal Deutschlands Fläche. Obwohl die Bevölkerungsdichte mit den 127 Milllionen Einwohnern vergleichsweise gering ist, wohnen Familien für gewöhnlich auf engstem Raum als Solidarsystem, wenn nicht durch die Arbeitsmigration zerrissen im extremen Spagat.
Geschätzt 30 Millionen Menschen in den USA haben mexikanische Wurzeln und Pässe, viele ohne legalen Status. Eltern und Kinder kommunizieren über Messenger-Dienste, solange die Bande hält.

 

Von den Ruinen und Schätzen der einstigen Hochkulturen wurde bislang nur ein Bruchteil unter den Regenwäldern ausgegraben, verschüttet durch die gewalttätige spanische Eroberung und den allgegenwärtigen Rassismus.
Die tiefen Wurzeln blieben lebendig in religiösen und kulturellen Bräuchen, der Medizin, der Sprache, dem großen Mix aus katholischer Marienverehrung und kosmischen Elementen.

Anarchisch tolerant blüht der Synkretismus in der religiösen Vielfalt und tiefen Volksfrömmigkeit – im laizistischen Staat.

Die bunte Gesellschaft der Lebenskünstler_innen überzieht selbst den Tod mit Zuckerguss, weint und lacht. Trotz aller blutigen Taten bieten Heilige und landestypischen Agavenschnäpse pausenlos Anlässe für die ungebrochene Feierlaune. Sind Lachtränen salzig?

Die soziale und kulturelle Kluft spaltet das Land. Schwach scheint die Erinnerung an die goldene Dekade der 70-ziger Jahre im einst liberalen, aufstrebenden Schwellenland. Im failing state setzen die Menschen auf die Familie als Solidargemeinschaft und Patronagesysteme.

Gesehen haben wir, wie autoritäre Strukturen das Menschsein in der Arbeitswelt beschädigen. Simultan  wehren sie sich,  indem sie Straßen blockieren, die Türen der Bürokratie einrennen, das Gesundheitssystem bestreiken, gegen vorenthaltene Löhne protestieren, um Land zu gewinnen.

Die vielen klugen Menschen, die wir trafen, zeigten sich haltlos erschöpft von Arbeitstagen bis zu 12 Stunden, der Inflation, des Drogenkrieges, des Vertrauensverlustes in staatliches Handeln infolge von 70 Jahren schamloser Korruption- und zugleich im alltäglichen Miteinander beeindruckend achtsam, solidarisch, um Lösungen bemüht statt voller Klagen.  Sie scheinen begabt, Widrigkeiten mit tapferem Augenzwinkern zu bewältigen, tief gläubig  und oft voller Zuversicht.

Unsere Wahrnehmungen mögen täuschen, unser Blog spiegelt kleinste Ausschnitte wider. Mehr ließ sich nicht in Worte und Bilder fassen. Presseberichte ergänzten die Leerstellen, z. B. El Proceso, La Jornada, America21, Animalpolítico.com, die deutschen Monatszeitschrift ila und Lateinamerikanachrichten. Auch Gespräche z. B. mit Tortillaverkäuferinnen wie Hochschullehrkräften klärten.

AMLOs Regierungsprogramm verspricht „die vierte Transformation“ des Landes. Alles kann und muss besser werden im Land der neoliberalen Ausbeutung, der Korruption, der Gewalt. Was kann ein Präsident, die Sammlungsbewegung MORENA im Rücken, binnen von 6 Jahren bewirken? Kann sich eine Zivilgesellschaft über die Entfernungen hinweg landesweit organisieren?

 

Ach du diverses Mexiko.
Im Transit nach Costa Rica überfällt uns der Blues.

 

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

3 Kommentare zu „Mexiko- Blues“

  1. dann hoffe ich doch sehr, dass dieser Blues euch nicht allzusehr im Griff hat, obwohl er ja auch Teil einer positiv-wehmütigen Melancholie ist, oder?
    Danke für diese wundervollen Berichte und bleibt mir gesund und munter!
    Liebe Grüße
    Christel

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  2. Ihr Lieben, habe heute euren kompletten Mexiko-Blog gelesen. Sehr beeindruckend, informativ, teils deprimierend (wie um aller Welt kann dieser Wahnsinn weltweit eigentlich noch gestoppt werden? Es gibt so viel, was einen verzweifeln lassen könnte) und dann auch eure so positiven Erfahrungen mit Menschen, Situationen. Und so phantastische Bilder! Ich finde es sehr spannend und faszinierend zu lesen, wir ihr diese Zeit verbringt. Wünsche euch für Costa Rica auch eine wundervolle Zeit. Passt auf euch auf. Ganz liebe Grüße aus Koblenz, wo alle 4 Familienmitglieder ihre Zeit zusammen genießen, Marianne (werde euren Blog jetzt regelmäßig lesen, hatte bis zum 10.12. aber keine Ahnung, dass es ihn gibt.)

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