Tagebuchnotizen

23.11.2018
Traumhafte Stille der Sierra. Fruchtbares Tal 8 km außerhalb Oaxacas. Blick auf das Grundstück.
Brenda und Alejandro gründen gemeinsam mit Freund_innen ein Wohnprojekt mit großem Garten. Wir genießen das Licht. Abends trauriger Abschied von Brenda und den Mädchen. Alejandro steigt mit uns in den Nachtbus gen Chiapas.

24.11.2018
Zerknautschte Ankunft in San Cristobal nach 13 Stunden Busgeschaukel. Frühstück mit Anna (Brot für die Welt), Gespräch über Vertreibungen, fehlende Landtitel, Chiapas auf der Route lateinamerikanischer Drogenbanden, Fragmentierung der indigenen Gruppen, unversöhnlich und misstrauisch dem politischen System gegenüber. Radikale Gegenentwürfe- Rückzug in Caracoles, autonome, selbstverwaltete Dörfer.
Referent Alejandro, geladen zu einem kritischen Forum. Sein engagiertes Buch zum Friedensprozess in Chiapas. Diskussion über konkrete Utopien und die Realität ein Vierteljahrhundert nach dem Aufstand.
Abreise Alejandros. Adios! Auf Wiedersehen, hoffentlich bald!

25.11.2018
Frauenmorde in steigender Zahl. 250 Frauen demonstrieren in San Cristobal gegen die Gewalt, fordern ein Ende der Straffreiheit. Viersprachige Abschlusskundgebung in kämpferischen Tönen, viele indigene Frauen.

Kleine Murmel: Junge Leute aus Kpalime (Togo) auf der Demonstration. Sie pflanzen Bäume. Kpalime- weltwärts-Arena unseres Sohnes Felix 2009/10. Die afrikanischen Freiwilligen frieren in ihrem Workcamp auf 2200 Höhe, ein Einsatz für  3 Monate.
Sie kugeln sich  vor Lachen, als Ebi ihnen zum Abschied ein „Bon Cri-Cri“ wünscht.

„Nachmittags- inspirierendes Museum für Maya- Medizin. Heilpflanzen als klare Alternativen zur Pharmaindustrie. Plakate gegen weltweite Biopiraterie. Berührend- vor jedem Schnitt werden die Pflanzen um Vergebung gebeten. Gebete an den Geist der Erde, Kerzen, Knochen und Kiefernnadeln vertreiben böse Geister. Frauen gebären traditionell auf den Knien, gehalten vom Mann und der Hebamme. Notiert für Hebamme Annerose, meine Schwägerin.

26.11.2018
Wir streifen durch die Stadt der Gegensätze. Touristische Infrastruktur, Kolonialbauten, Galerien, Museen, Hotels. Rucksacktouristen und Betuchte, Szene- Cafes.

Seit 1994 San Cristobal Mekka für Revolutionsbegeisterte auf der Suche nach der zapatistischen Formel. Viele indigene Frauen und Kinder, die Waren anbieten. Die Trachten- wegen der Touristen? Indigene auf der Suche nach dem guten Leben als antikapitalistischer Anziehungspunkt.

Abends linksalternative Kulturkinokneipe KiNoKi, könnte auch Mainz, Berlin, Köln sein. Doku über die Geschichte der zapatistischen Bewegung von 1994 bis 2007. Wiederauffrischung für uns. Die Stadt wächst an den Rändern wie eine Krake aufgrund hoher Binnenmigration, Zuzüge und Vertreibungen aus konfliktiven Dörfern. Die Höhe von 2200 Metern und die geographische Lage erschweren die landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft.

27.11.2018
Nasskalter Bindfadenregen. Verlassen kaum das Hostal. Mit uns junge Leute, die biologisch unsere Enkel sein könnten. Besuch des Museums Jtatik Samuel Ruiz, Bischof, der den Friedensprozess zwischen den Zapatisten und der nationalen Regierung moderierte. Diskussion mit der Museumsleiterin Natalia Bojórquez und dem Berater Jorge Santiago. Kopfschüttelnde Ratlosigkeit, Waffengewalt, Vertreibungen, Extraktivismus, Rassismus, Machismus. Misstrauen und Fragmentierung allenthalben, failing state schon auf kommunaler Ebene. Der Staat gegen „Uso y Costumbres“, d.h. die autonome Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit,  evangelikale Sekten gegen den bröckelnden Katholizismus, indigene Interessensgruppen in Abgrenzung. Besuch in den Caracoles ohne Beziehungen unmöglich.

28.11.2018
Busfahrt 2 Stunden südöstlich, die Stadt Comitan, 140 000 Einwohner_innen. Erste unabhängige Stadt Lateinamerikas im 19. Jahrhundert. Eine Perle. Schöne Plätze. Engagierte Kulturschaffende zerren uns mit ansteckendem Engagement in die Museen. Stadt der Schriftstellerin Rosario Castellano (1925-1974).

Mitten im armen Chiapas auffallender Wohlstand, viele Volkswagen, teure Hotels. Durch Comitan führt die Panamericana. Ein fruchtbares Umland, Geldrückfluss der Händler, die Grenze zu Guatemala 50 km entfernt.

Abends Eröffnung des 2. zentralamerikanischen Dokumentarfilmerinnen-Festivals.  Frauen filmen. Preisgekrönter Film über befreiende Grundschulpädagogik auf dem Land „El Sembrador“ (2017, 82 Minuten). Die Filmemacherin und der Lehrer anwesend. Goldkorn für die Lehrerausbildung auch in Deutschland, Anstiftung zur inklusiven Bildung, zum selbstbestimmten Lernen. 45 Kinder aller Altersgruppen im einzigen Klassenzimmer. Lernort Feld, Himmel, Fluss, Herd. Beeindruckende Lehrerpersönlichkeit, seit 20 Jahren jährlich neu von der Gemeindeversammlung gewählt.

29.11.2018
Tagesausflug ins Naturschutzreservat Montebello. Wanderung durch dichten Nebelwald, einen See umrundet. Insgesamt 59 Gewässer. Aufgeschreckte Ameisenbären huschen über unsere Füße.

Abends Fotoausstellung: Achtsame Nahaufnahmen zapatistischer Frauen in Schwarz-Weiß aus den Jahren 1994-1998. Die Fotografin Angeles Torrejón aus der Stadt Mexiko  beschreibt, wie ihre Fotos während der kriegerischen Auseinandersetzungen mit der mexikanischen Armee in den 90-er Jahren entstanden. Großes Interesse bei der Vernissage, Applaus für ihren weiblichen Blick auf den zapatistischen Aufstand.

30.11.2018
Konzerte und Lesungen. 18. Internationales Literaturfestival Rosario Castellano, Eintritt frei. Kolossales Kulturangebot der Stadt mit Poesie, Musik, Theater, und Tanz. Extreme Ungleichzeitigkeiten. Wenige Meter von der Großbühne entfernt stürmen ca. 100 wütende und verzweifelte Arbeiter die Bürgermeisterei.  Ihr  Lohn für November 2018 wurde nicht ausgezahlt.

01.12.2018
Redaktionssitzung der Blauen Murmel. Artikel über die schwierige Wirtschaftslage. Kaum veröffentlicht, fällt uns ein, nichts über die galoppierende Inflation und die dramatische Abwertung des Peso gegenüber dem Dollar als Leitwährung gesagt zu haben.

Vom Regierungswechsel nichts zu spüren, kein Freudenfeuer der Morena- Bewegung in Comitan sichtbar. Fernsehspot mit AMLOs Vereidigung.

2.12.2018
Endlich laufen und schwimmen, intensive   Naturerfahrungen. Hütte für einige Tage im Naturschutzpark Montebello, unmittelbar an der Grenze zu Guatemala  gemietet. Strahlender Sonnenschein, Landschaft wie in Finnland? Tasten uns in kalte Wasser. Die Kaimane seien Vegetarier, neckt uns Moto-Taxifahrer Pancho.

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

Ein Gedanke zu „Tagebuchnotizen“

  1. Hallo Ihr Zwei,
    nach ein paar Tagen weg von Mainz habe ich heute mal wieder in euren Blog geschaut und die drei letzten Beiträge gelesen. Von Mexiko weiß ich viel zu wenig, kenne zwar einige der grundsätzlichen Probleme bezüglich Kriminalität etc., aber wie schwierig es mit geregelter Arbeit ist, ohne jede Absicherung, das war mir nicht so klar, noch weniger, dass der MIndestlohn unter dem von China liegt.
    Der neue Präsident? Ein großer Hoffnungsträger scheint er euren Andeutungen nach nicht zu sein…
    Geht es in der nächsten Zeit nach Guatemala?
    Wie auch immer, warte mit Spannung auf die kommenden Berichte, bin froh, dass ihr gesund seid (es macht den Eindruck) und euch auch immer wieder an der Natur und vor allem guten Begegenungen mit den Menschen dort erfreuen könnt.
    Abrazos Christel

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