Rwamagana, die Provinzstadt im Osten Ruandas: Überall wird gebaut und gewerkelt, Straßen werden gepflastert oder asphaltiert, das Drainagesystem wird erweitert. Hinweisschilder informieren über zahlreiche Projekte, die anvisierten Bauphasen, die heimischen und auch teils ausländischen Geldgeber für Schulen, Gesundheitsstationen, Rehabilitationszentren. Ruanda nziza, Ruanda neu.
Obwohl Schulferien sind, ist die Schule der protestantischen Kirche geöffnet. Im Schulhof weiden Rinder. Lehrer Jean-Paul betreut gemeinsam mit Kolleg_innen ehrenamtlich Ferienkurse für arme Kinder aus dem Stadtviertel, unabhängig von ihrer Konfession. Unterricht findet von 7.00 Uhr bis 14:00 Uhr statt. Die Kinder erhalten ein Frühstück.
„Mein christliches Selbstverständnis bringt mich zum Engagement. Wir wollen Ruanda voranbringen, und zwar durch gute Schulen. Aktuell fehlen qualifizierte Lehrer. Die Bevölkerung ist jung und wächst schnell. Mein persönliches Ziel? Ich möchte eine eigene Schule aufbauen. Dort könnte ich die Lehrkräfte selbst aussuchen und ausbilden. Schon jetzt bin ich in der Lehrerausbildung tätig. Jedes Kind in Ruanda soll Zugang zu Bildung haben.“
Kinder und Erwachsene holen kanisterweise Wasser von der Zapfstelle, junge Männer transportieren Ananas und schwere Säcke. Unter Bananenstauden drohen die Fahrräder beim Weg zum Markt zusammenzubrechen.
Frauen balancieren Henkelmänner, Brennholz, Früchte auf dem Kopf stadteinwärts. Vor den Häusern sitzen Männer und Frauen, um Orangen, Bananen, Papaya oder gebrauchte Schuhe zu verkaufen. Altkleider? Der weitere Import von Secondhandkleidung ist seit 2019 verboten, um die ruandische Wirtschaft nicht länger zu schädigen.
Fahrräder werden vom Schlamm befreit. In den kleinen Gärten rund um die Häuser bearbeiten auch Kinder das Terrain mit Haken und Macheten. Die Kleinen winken mal scheu, mal verschmitzt mit „Muraho! How are you?“, voller Freude, wenn wir antworten. Sie spielen mit Ziegeln, Schlamm und ausgedienten Fahrradreifen. In einer Regenpfütze sucht ein Mann ohne Schuhe nach dem Loch im Schlauch.
Chormusik erklingt aus einer Kirche der Adventisten, ein Muezzin ertönt, in der Pfingstkirche fand der Gottesdienst bereits am frühen Morgen statt. Auch an der katholischen und anglikanischen Kirche sowie bei den Zeugen Jehovas laufen wir vorbei. Die christliche Missionierung soll nirgends in Afrika so „erfolgreich“ gewesen sein wie hier in Ruanda. Zicklein blöken erbärmlich, als man sie auf dem Tiermarkt von den Muttertieren trennt.
Eine Stadt läuft, rollt, hämmert, putzt- und wir auf unserem Spaziergang in der prallen Morgensonne mit.
Auf einer Decke entdecken wir Kassawa, das in der Sonne trocknet.
John Bosco erklärt uns in gutem Englisch, das Gemüse werde gestampft und gemahlen. Es dürfe keinesfalls gekocht werden. Er stellt uns die schwangere Frau und den zweijährigen Sohn vor. Im Hof steht das Motorrad des Taxifahrers. „Ich habe einen Schulabschluss und eine Ausbildung zum Mechaniker. Zuletzt habe ich einen Englischkurs besucht. Hoffentlich kann ich umziehen. Im Stadtzentrum möchte ich eine eigene Werkstatt aufbauen. Dann kann meine Frau mitarbeiten. Sie ist zurzeit arbeitslos“.
Auch John hat Pläne und zeigt Eigeninitiative wie viele Ruander, die wir kennenlernen. Auf unsere Frage hin, wie er den Genozidgedenktag am nächsten Tag begeht, sagt er: „Ich bin Opfer. Ich bin 35 Jahre alt. Meine Mutter wurde getötet, als ich 10 Jahre alt war.“
Nach 4-stündigem Marsch kehren wir müde und verschwitzt ins Hotel zurück. Die siebzehnjährige Rose erwartet uns. Als angehende Studentin für Hotel- und Tourismusmanagement jobbt sie in einem Restaurant, um die Eltern finanziell zu entlasten. Heute will sie uns helfen, Ruanda zu verstehen, den Aufbau des Landes nach dem Genozid. „Schrecklich. Wir haben unsere eigenen Nachbarn getötet. Das darf nie wieder geschehen.“
Auf ihrem Smartphone zeigt Rose uns ein Porträt Kagames, der für den Frieden und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Großes geleistet habe. „One child, one laptop“ sei ein aktuelles Regierungsprogramm. Rose zeigt sich stolz auf die Regierung.
Sie zählt die vielfältigen Hilfen für die Opfer, die Rehabilitation für die Täter, die Strategie der industriellen und technologischen Entwicklung, die gezielte Förderung von Frauen , eine fortschrittliche Familienpolitik, die strenge Umweltgesetzgebung und die Sicherheit im Land auf.
„Fühlen sich junge Männer in Ruanda vielleicht als Verlierer angesichts der emanzipierten und erfolgreichen neuen Frauengeneration?“, wollen wir wissen aufgrund unseres eigenen Backgrounds. Die junge Frau scheint unsere Fragen manchmal nicht nachzuvollziehen. „Jeder Schulabgänger kann staatliche Unterstützung erhalten, um im Handwerk tätig zu werden. Wer will, kann Arbeit finden. In Ruanda haben wir jetzt Gender Balance, Männer und Frauen haben gleiche Chancen.“
Über einen Generationskonflikt erfahren wir nichts. Streit mit den Eltern gebe es vor allem schonmal im „Stupid Age“ während der Pubertät. „Kagame hat eingeführt, dass minderjährige Mütter die Schule beenden können. Früher wurden sie von den Familien verstoßen. Das ist vorbei.“
Rose fasziniert uns mit ihrem fast unerschütterlichen Selbstbewusstsein, aber auch ihrer Neugierde uns ausländischen Gästen und Deutschland gegenüber. „Wie seid ihr in Deutschland mit den Folgen des Genozids an den Juden umgegangen? Was ist mit den Tätern passiert? Wie ist Deutschland wirtschaftlich so erfolgreich geworden? Was tun die Bauern in Deutschland konkret gegen den Klimawandel?“
Im Gespräch bleibt kein Raum, über Kehrseiten der gelenkten Demokratie zu sprechen. Wir halten uns mit diesen Fragen zurück und wollen sie bei anderer Gelegenheit formulieren.