Ein bewegtes Land

Rwamagana, die Provinzstadt im Osten Ruandas: Überall wird gebaut und gewerkelt, Straßen werden gepflastert oder asphaltiert, das Drainagesystem wird erweitert. Hinweisschilder informieren über zahlreiche Projekte, die anvisierten Bauphasen, die heimischen und auch teils ausländischen Geldgeber für Schulen, Gesundheitsstationen, Rehabilitationszentren. Ruanda nziza, Ruanda neu.

 

Obwohl Schulferien sind, ist die Schule der protestantischen Kirche geöffnet. Im Schulhof weiden Rinder. Lehrer Jean-Paul betreut gemeinsam mit Kolleg_innen ehrenamtlich Ferienkurse für arme Kinder aus dem Stadtviertel, unabhängig von ihrer Konfession. Unterricht findet von 7.00 Uhr bis 14:00 Uhr statt. Die Kinder erhalten ein Frühstück.
Mein christliches Selbstverständnis bringt mich zum Engagement. Wir wollen Ruanda voranbringen, und zwar durch gute Schulen. Aktuell fehlen qualifizierte Lehrer. Die Bevölkerung ist jung und wächst schnell. Mein persönliches Ziel? Ich möchte eine eigene Schule aufbauen. Dort könnte ich die Lehrkräfte selbst aussuchen und ausbilden. Schon jetzt bin ich in der Lehrerausbildung tätig. Jedes Kind in Ruanda soll Zugang zu Bildung haben.“

Kinder und Erwachsene holen kanisterweise Wasser von der Zapfstelle, junge Männer transportieren Ananas und schwere Säcke. Unter Bananenstauden drohen die Fahrräder beim Weg zum Markt zusammenzubrechen.

Frauen balancieren Henkelmänner, Brennholz, Früchte auf dem Kopf stadteinwärts. Vor den Häusern sitzen Männer und Frauen, um Orangen, Bananen, Papaya oder gebrauchte Schuhe zu verkaufen. Altkleider? Der weitere Import von Secondhandkleidung ist seit 2019 verboten, um die ruandische Wirtschaft nicht länger zu schädigen.

Fahrräder werden vom Schlamm befreit. In den kleinen Gärten rund um die Häuser bearbeiten auch Kinder das Terrain mit Haken und Macheten. Die Kleinen winken mal scheu, mal verschmitzt mit „Muraho! How are you?“, voller Freude, wenn wir antworten. Sie spielen mit Ziegeln, Schlamm und ausgedienten Fahrradreifen. In einer Regenpfütze sucht ein Mann ohne Schuhe nach dem Loch im Schlauch.

Chormusik erklingt aus einer Kirche der Adventisten, ein Muezzin ertönt, in der Pfingstkirche fand der Gottesdienst bereits am frühen Morgen statt. Auch an der katholischen und anglikanischen Kirche sowie bei den Zeugen Jehovas laufen wir vorbei. Die christliche Missionierung soll nirgends in Afrika so „erfolgreich“ gewesen sein wie hier in Ruanda. Zicklein blöken erbärmlich, als man sie auf dem Tiermarkt von den Muttertieren trennt.

Eine Stadt läuft, rollt, hämmert, putzt- und wir auf unserem Spaziergang in der prallen Morgensonne mit.

Auf einer Decke entdecken wir Kassawa, das in der Sonne trocknet.

John Bosco erklärt uns in gutem Englisch, das Gemüse werde gestampft und gemahlen. Es dürfe keinesfalls gekocht werden. Er stellt uns die schwangere Frau und den zweijährigen Sohn vor. Im Hof steht das Motorrad des Taxifahrers. „Ich habe einen Schulabschluss und eine Ausbildung zum Mechaniker. Zuletzt habe ich einen Englischkurs besucht. Hoffentlich kann ich umziehen. Im Stadtzentrum möchte ich eine eigene Werkstatt aufbauen. Dann kann meine Frau mitarbeiten. Sie ist zurzeit arbeitslos“.
Auch John hat Pläne und zeigt Eigeninitiative wie viele Ruander, die wir kennenlernen. Auf unsere Frage hin, wie er den Genozidgedenktag am nächsten Tag begeht, sagt er: „Ich bin Opfer. Ich bin 35 Jahre alt. Meine Mutter wurde getötet, als ich 10 Jahre alt war.“

Nach 4-stündigem Marsch kehren wir müde und verschwitzt ins Hotel zurück. Die siebzehnjährige Rose erwartet uns. Als angehende Studentin für Hotel- und Tourismusmanagement jobbt sie in einem Restaurant, um die Eltern finanziell zu entlasten. Heute will sie uns helfen, Ruanda zu verstehen, den Aufbau des Landes nach dem Genozid. „Schrecklich. Wir haben unsere eigenen Nachbarn getötet. Das darf nie wieder geschehen.“

Auf ihrem Smartphone zeigt Rose uns ein Porträt Kagames, der für den Frieden und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Großes geleistet habe. „One child, one laptop“ sei ein aktuelles Regierungsprogramm. Rose zeigt sich stolz auf die Regierung. Sie zählt die vielfältigen Hilfen für die Opfer, die  Rehabilitation für die Täter, die Strategie der industriellen und technologischen Entwicklung, die gezielte Förderung von Frauen , eine fortschrittliche Familienpolitik, die strenge Umweltgesetzgebung und die Sicherheit im Land auf.

Fühlen sich junge Männer in Ruanda vielleicht als Verlierer angesichts der emanzipierten und erfolgreichen neuen Frauengeneration?“, wollen wir wissen aufgrund unseres eigenen Backgrounds. Die junge Frau scheint unsere Fragen manchmal  nicht nachzuvollziehen. „Jeder Schulabgänger kann staatliche Unterstützung erhalten, um im Handwerk tätig zu werden. Wer will, kann Arbeit finden. In Ruanda haben wir jetzt Gender Balance, Männer und Frauen haben gleiche Chancen.

Über einen Generationskonflikt erfahren wir nichts. Streit mit den Eltern gebe es vor allem schonmal im „Stupid Age“ während der Pubertät. „Kagame hat eingeführt, dass minderjährige Mütter die Schule beenden können. Früher wurden sie von den Familien verstoßen. Das ist vorbei.“

Rose fasziniert uns mit ihrem fast unerschütterlichen Selbstbewusstsein, aber auch ihrer Neugierde uns ausländischen Gästen und Deutschland gegenüber. „Wie seid ihr in Deutschland mit den Folgen des Genozids an den Juden umgegangen? Was ist mit den Tätern passiert? Wie ist Deutschland wirtschaftlich so erfolgreich geworden? Was tun die Bauern in Deutschland konkret gegen den Klimawandel?“

Im Gespräch bleibt kein Raum, über Kehrseiten der gelenkten Demokratie zu sprechen. Wir halten uns mit diesen Fragen zurück und wollen sie bei anderer Gelegenheit formulieren.

11 Frauenstimmen zum 8. März

Yuri, Lehrerin aus David, Panama

Yuri unterrichtet an einer Landwirtschaftsschule. In der Freizeit engagiert sie sich in unterschiedlichen Netzwerken für Gendergerechtigkeit.

Erst seit 2014 erlauben Panamas Schulen Sexualaufklärung. Dagegen zieht die Partido Patriótico der neuen Rechten auf die Straße. Sie mobilisiert im Wahlkampfjahr 2019 zudem gegen die Gleichstellung der Ehe. Der versuchte Stimmenfang bedroht die Demokratie und Menschenrechte…
Die Menschen zu sensibilisieren ist wichtig, Partizipation ist entscheidend, mitmachen zu können. Gerade sind die Frauen in weiße Laken gehüllt gegen Feminizide auf die Straße gegangen.“

Marcela, Hausangestellte aus Oaxaca, Mexiko

Marcela versorgt tagsüber eine Demenzkranke, abends zuhause ihre Söhne und die schwerstbeeinträchtige Enkelin.

Ich bin nur 6 Jahre zur Grundschule gegangen und hoffe, dass meine Kinder es besser haben. Mein Mann arbeitet in einer Schlachtfabrik. Zu Hause macht er nichts und lässt mich mit der Kindererziehung allein. Dies ist eben Machismo in Mexiko.“

 

Jessica, Angestellte aus Puerto Viejo, Costa Rica

Jessica arbeitet von 8:00 Uhr bis 14:00 Uhr im Reisebüro und von 16:00 Uhr bis 22:00 Uhr im Einzelhandel. Zwischendurch versorgt sie ihre Kinder.

„Mir macht die Arbeit im Reisebüro Freude, weil mein Chef mir Freiheiten lässt. Außerdem: Aqui en el Caribe manda la mujer, die Frau bestimmt. Auch von nervigen Kunden lasse ich mir nichts gefallen. Seit meinem 5. Lebensjahr muss ich arbeiten, weil ich aus einer sehr armen Familie stamme…Die gute Erziehung meiner Söhne ist mir das Wichtigste. Sie sollen nicht in das Drogenmilieu abdriften. Zum Glück unterstützt mich mein Lebenspartner, der als Taxifahrer arbeitet. Das Leben ist so teuer, da komme ich mit einem Stundenlohn von 2.000 Colones (ca. 3,30$) nicht weit…Meine junge sehr hübsche Kollegin im Laden wird häufiger gefragt, wieviel sie für eine Nacht kostet, einfach widerlich.“

Paz, Psychologiestudentin aus Mexiko-Stadt

48-jährig setzt Paz ihr Studium der klinischen Psychologie fort, das sie vor 12 Jahren wegen der Kinder unterbrach. Sie hofft, sich als Therapeutin niederzulassen.

„Hier gibt es so viel häusliche Gewalt gegenüber Frauen und Kindern, mir liegt eine gewltfreie Kommunikation sehr am Herzen.“

 

Dona Givis, Hotelierin aus Cartagena, Kolumbien

Als selbstständige Unternehmerin eröffnete Dona Givis ein Hotel im Stadtteil Getsemani.

„Dem Ausverkauf unseres historischen Erbes wollte ich bewusst etwas entgegensetzen. Ich habe das Haus 2008 in schlechtem Zustand erworben und nach und nach zum Hotel umgebaut. Hier arbeiten nur Mitarbeiter_innen mit festen Verträgen, die aus meinem familiären Umfeld kommen oder aus Cartagena sind. Die Galerie im Foyer des Hotels ermöglicht lokalen Künstler_innen, sich zu präsentieren.
Freiwillig sind wir der Initiative lokaler Hoteliers beigetreten, die sich verpflichtet, Prostitution nicht zuzulassen. In der Stadt sind leider Touristen unterwegs, die Sex mit Minderjährigen suchen.“

Faustina, Kakaobäuerin aus Shiroles, Costa Rica

Faustina ist Präsidentin einer Frauenkooperative und als Angehörige der BriBri in der Mythologie verwurzelt.

„El Cacao es feminino, der Kakao ist weiblich. Nosotras, wir Frauen geben das Leben. Der Name der Frau wird an die Nachfahren vererbt, die Frauen besitzen die Landtitel. Das patriarchalische Erbe der spanischen Eroberung brauchen wir nicht. Für uns sind Männer und Frauen gleich. Macht über andere auszuüben, gehört nicht in unsere Kultur, wir Frauen pflegen den Respekt.“

Rebecca, Tänzerin aus Mexiko-Stadt

Rebecca hat soeben ihr Studium als Tänzerin erfolgreich beendet. Sie genießt das Leben in der Großstadt.

„Ein Macho als Partner kommt für mich nicht in Frage.“

 

 

Psychologinnen aus Mendoza, Argentinien

Die Kinder- und Jugendpsychologinnen leisten Präventionsarbeit und Traumabewältigung.

„Die Zahl der Frauenmorde hat in Argentinien 2018 zugenommen, vielleicht weil der Tatbestand endlich indiziert wird.“

 

Yolanda, Hebamme aus Oaxaca, Mexiko

Yolanda ist Zapotekin. Sie hat ihr Wissen und ihr Handwerk von ihren Großmüttern erlernt. Yolanda begleitet Frauen bei Hausgeburten sowie in Krankenhäusern, falls Gynäkologen dies zulassen. Sie appelliert:

„Lebt eure Bräuche, vergesst nicht eure Geschichte inmitten der schwierigen Zeiten des Neoliberalismus.“

 

Lidia, Tagesmutter aus BriBri, Costa Rica

Lidia betreut tagsüber Kinder in einem Haushalt.


„Ich bin Landbesitzerin, da in unserer Kultur die Parzellen den Frauen vermacht werden. Meine Eltern leben ganz in der Nähe. Jede BriBri-Familie verfügt über ein kleines Stück Land. Es darf grundsätzlich nur an Indigene verkauft werden. So bleiben wir zusammen, um unsere Kultur zu pflegen…
Hier gibt es viele junge Mütter. Obwohl die jungen Frauen kostenfreien Zugang zu Verhütungsmitteln wie z. B. der Dreimonatsspritze haben, macht sich die Jugend keine Gedanken. Gesetzlich sind die Väter später zu Unterhaltungszahlungen verpflichtet.“

Geraldine, Modedesignerin und Filmschaffende aus Minca, Kolumbien

Geraldine hat soeben ein betriebswirtschaftliches Fernstudium aufgenommen, um gemeinsam mit ihrem Lebenspartner ein Hostal zu betreiben.

„Eine gute Ausbildung und finanzielle Eigenständigkeit, das brauchen die Frauen in Kolumbien, um sich zu emanzipieren. Die Religion nimmt so viel Einfluss. Frauen sollen ihr Leben den Kindern opfern. Oft bekommen die Frauen früh schon Kinder. Damit endet die Berufstätigkeit. Sie bleiben zuhause. Wichtig wäre eine gute Sexualaufklärung. Davon habe ich in der Schule nichts mitbekommen. Unsere Gesellschaft ist leider noch immer sehr wertkonservativ… Frauen, die eine Fehlgeburt haben, droht Gefängnis. Man unterstellt ihnen, sie hätten einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Der steht unter Strafe.
Ich werde ständig gefragt, warum ich nicht verheiratet bin, warum ich keine Kinder habe, auch von meiner Familie. So, als ob man ohne Kinder keine richtige Frau sei. Ich möchte einen anderen Lebensentwurf wagen. Und Spuren hinterlassen…Manche feministischen Frauengruppen in Kolumbien sind sehr extrem. Mir geht es darum, die gleichen Rechte zu haben wie die Männer. Mich macht es wütend, wenn Frauen sich weiterhin den Männern unterordnen und nicht für ihre Rechte einstehen.

 

Venezuela in Kolumbien

Die Grenze zu Venezuela liegt nur ca. 2 Stunden von Santa Marta entfernt. Kolumbianische Bürger_innen wie venezolanische Geflüchtete und Arbeitsmigrant_innen halten gleichermaßen den Atem an, wir auch. Die Tageszeitungen widmen der Situation im Nachbarland ganzseitige Artikel. Gebannt blicken die Menschen auf den Bildschirm.

Bleibt Maduro an der Regierung? Wird die Venezuela- Krise weiter eskalieren? Entzündet sich in Kürze ein Bürgerkrieg? Kommt es zur militärischen Intervention?

Die Zündhölzer:
Ein selbst ernannter Interimspräsident.
Die eilige internationale Anerkennung desselben durch mehr als 50 Staaten, einschließlich Deutschlands.
Die Bündnispolitik der USA mit rechtskonservativen Regierungen wie Argentinien, Brasilien, Kolumbien.
US- amerikanische Lebensmittellieferungen, die als politisches Druckmittel eingesetzt wurden und mit dem Impetus der inneren Einmischung verteilt werden sollten, nicht als neutrale humanitäre Hilfe.
Ein brandgefährliches Konzert am 22. Februar.
Provokationen am Grenzübergang. In der Nachbereitung Kontroversen über die Zahl der Opfer, die wahren Vorfälle, mediale Inszenierungen. Ungeklärt scheint, wer die beiden Lastwagen mit den amerikanischen Gütern in Brand setzte.

Kolumbien zeigt sich als treuer Bündnispartner der USA zunehmend in die Auseinandersetzungen involviert. Kritische Kommentatoren glauben, die außenpolitische Krise komme für den kolumbianischen Staatspräsidenten Duque gelegen, um von der Innenpolitik abzulenken. Die Schlagzeilen der Tagespresse befassen sich mit Venezuela, nicht mit der Wiederbewaffung der Paramilitärs, der forcierten Abholzung des Regenwaldes, dem ausgebremsten Friedensprozess in Kolumbien.

Die blaue Murmel überlässt es den Beobachtern vor Ort an der Grenze und in Venezuela, die Lage zu analysieren. Hier finden sich differenzierte Recherchen und Hintergrundinformationen:

 

 

Guaido spielt ein gefährliches Spiel. In: TAZ 24.02.2019
http://www.taz.de/!5572341/ (aufgerufen am 25.02.2019)

Was die USA tun, hilft nur Maduro. In: http://www.n-tv.de 25.02.2019
https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Was-die-USA-tun-hilft-nur-Maduro-article20873641.html (aufgerufen am 25.02.2019)

Ein Podcast zu Venezuela vom 27.02.2019, u.a. ein Kommentar zur umstrittenen Anerkennung des selbsternannten Interimspräsidenten durch Deutschland  und ein Interview zur aktuellen Situation
https://www.npla.de/podcast/onda-info-454/(aufgerufen am 27.02.2019)

Eine Analyse zur politischen Entwicklung in Venezuela
https://www.medico.de/gegen-die-eigene-verfassung-17080/
(aufgerufen am 15.02.2019)

Unterwegs in Kolumbien treffen wir auf viele Venezulaner_innen, die die Grenze überquerten, um die dramatische Lebenssituation für sich und ihre Familien zu verbessern. Die Inflation in Venezuela beträgt zurzeit 1.000.000 %.

Angeblich verfügen viele Venezolaner_innen, die derzeit aufgrund der Krise flüchten, über keinen Pass. Dadurch wird ihnen in Kolumbien eine Registrierung und die Arbeitserlaubnis erschwert. Die Menschen  leben sichtbar auf der Straße. Straßenhändler verkaufen Arepa, Kaffee oder Süßigkeiten.

Einige betteln und erwarten in der aufgeheizten politischen Situation Solidarität. Maduro sei wie Hitler. Andere verweisen auf die gravierenden ökonomischen Probleme im Land und trauern der Regierung unter Hugo Chavez nach.

Unterhalb jeglichen Mindestlohns bieten sich Gelegenheiten zur Schwarzarbeit in der Landwirtschaft, in der Baubranche, in der Gastronomie. Frauen harren tagsüber mit ihren Kindern in den Parks und auf den Bürgersteigen aus.

Die Not ist allgegenwärtig. Frauen-oftmals auch Minderjährige – bieten sexuelle Dienste an.

 

Die Mehrheit unserer kolumbianischen Gesprächspartner_innen zeigte durchaus Verständnis und Anteilnahme. Über Jahrzehnte hinweg lebten viele selbst aus politischen und wirtschaftlichen Gründen im Ausland, z. B. in Ecuador, Peru und zu guten Zeiten im einst ölboomenden Venezuela. Zugleich lässt sich eine Verunsicherung ob der Armutszuwanderung spüren. Der stete Verdacht lautet, die Kriminalität habe zugenommen. Nicht zuletzt schürt die Sensationspresse Ressentiments.

Die Bürger_innen haben Angst. Man muss etwas tun“, erläutert uns frühmorgens eine leitende Mitarbeiterin des Sozialamtes von Santa Marta. Aufgrund der Nähe zur Grenze seien in den letzten beiden Jahren sehr viele Menschen in Santa Marta gestrandet. „Jetzt starten wir gezielt Programme-
die Legalisierung des Aufenthalts, der Gesundheitsscheck, die Vermittlung einer Bleibe. Ein Auffangzentrum wurde von der Sozialverwaltung eingerichtet.

Die Leiterin des Programms äußert zugleich ihre Skepsis „Das Vertrauen in staatliche Behörden fehlt. Viele ziehen es vor, in der Illegalität zu bleiben, auch wenn sie damit in jeder Hinsicht sehr gefährdet sind. Dies gilt insbesondere für die jungen Frauen und alleinerziehende Mütter.“

Die offiziellen Zahlen variieren: Zwischen 1,3 bis 3 Millionen emigrierten in den letzten Jahren. Welche Zahl auch stimmt, die Lebensgeschichten ähneln. Die prekäre Lage der Venezolaner, die  vormals in gesicherten ökonomischen Verhältnissen lebten, spiegeln sich in  folgenden Interviewauszügen wider.  

Ein Fahrradtaxifahrer erzählt: „Ich war Restaurantbesitzer in der Hauptstadt Caracas. Die staatliche Bürokratie machte mir viele Auflagen, die ich nicht erfüllen konnte. Das Restaurant musste ich schließen. Seit einem halben Jahr lebe ich in Kolumbien. Leider wird mein Universitätsabschluss als Programmierer in Kolumbien nicht anerkannt. Jetzt versuche ich mit dem Taxi meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Meine Frau ist hier, unsere Kinder Kinder von 16 und 18 Jahren sind noch in Caracas, sie besuchen die Schule und die Universität.“

Als eine Frau Bauarbeiter und uns mit frischen Kaffee versorgt, sagt sie bekümmert: „Eigentlich bin ich Ingenieurin. Seit einem Jahr ziehe ich als Kaffeeverkäuferin durch Kolumbien. Seit Kurzem ist auch meine Mutter hier. Von dem Geld, dass ich in zwei Wochen in Venezuela verdiente, konnte ich nicht mal die Lebensmittel für einen einzigen Tag kaufen.“

Den 26-jährigen Jonathan  lernen wir in einem Hostal kennen und schätzen. Er verließ Venezuela vor 6 Monaten und  erzählt uns ausführlich seine Geschichte.

„Ich ließ meine Frau und meine beiden Kinder in Caracas zurück. Angesichts der ungeheuren Inflation konnte ich sie nicht mehr ernähren. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Ich war zwölf, in Straßen verkaufte ich Kuchen. Die Regierung unter Chavez unterstützte die Armen mit vielen guten Programmen. Ich beendete die Schule und schloss mein Informatikstudium ab. Meine Arbeit als Programmierer in der Nationalbank war gut bezahlt. Wir konnten uns ein kleines Haus leisten. Nach dem Tod von Chavez 2013 ging es im Land steil bergab. Wenn mein Gehalt ausgezahlt wurde, reichte es wegen der Inflation kaum mehr für den Reis. Darum habe ich meinen Job gekündigt und mich auf den Weg nach Kolumbien gemacht. Übrigens, von den ehemals 3300 Mitarbeitern der Nationalbank arbeiten heute nur noch ungefähr 1400 dort aus den gleichen Gründen.

In Santa Marta lebte ich auf der Straße. Ich verbrachte die Nächte an einer Tankstelle. Ich kann keine Arbeitserlaubnis beantragen. Von Venezolanern wurden mir vor der Grenze mein Pass, meine Arbeitsnachweise und mein Smartphone gestohlen. Ich war einige Wochen hier in der Kaffeeernte. Das Geld, was ich verdiene, schicke ich meiner Familie. Einmal die Woche telefoniere ich mit ihnen, aber es bricht mir fast das Herz.

Sobald ich etwas Geld habe, gehe ich zurück nach Caracas, um meine Söhne von 5 und 7 Jahren zu sehen. Sie sind den ganzen Tag mit der Mutter zuhause. Ihre Schule ist geschlossen, viele andere Schulen auch, weil die Lehrkräfte weggehen. So viele Kinder und Jugendliche verbringen jetzt Tage ohne Aufsicht auf den Straßen von Caracas. Und Caracas war schon zuvor die drittgefährlichste Stadt der Welt.
Ich will so schnell wie möglich nach Hause fahren, um einen neuen Pass zu beantragen. Der Staat befindet sich immer mehr in Auflösung und vieles funktioniert nur über Bestechung. Natürlich hoffe ich, später endlich legal in Kolumbien zu arbeiten. Die Busfahrt von Caracas nach Santa Marta dauert ungefähr 2 Tage.
Jetzt ist die Kaffeeernte vorbei, ein Hostalbesitzer gibt mir ein Dach über dem Kopf und Essen. Hier jobbe ich und lerne viel. Z. B. verbessere ich mein Englisch. Ich bin sehr dankbar, dass sie mir eine Arbeitsgelegenheit geben.“

Das Flaschendorf

Der Kanadier Robert Bezau lebt seit 7 Jahren im Unruhestand auf der beliebten Touristeninsel Bocas del Toro in Panama. Die unerträgliche Vermüllung des Meeres vor Augen sammelte er auf der Insel bereits über eine Million Plastikflaschen, um ein Dorf zu bauen. Die Häuser sind an das tropische Klima angepasst und mit Hilfe von Metallstangen und Zement erdbebensicher konstruiert. Wie eine PET- Flasche überdauern sie 500 Jahre.

Am Dorfrand erhalten Besuchergruppen im angegliederten Plastikmuseums weitere Informationen. Das als Schloss konzipierte Museum wurde aus 40 000 Flaschen gebaut. Im integrierten Hotel können Besucher im Plastik „probewohnen“.

Solange die Industrie nicht umsteuert und die seit 1987 patentierten Plastikflaschen verbietet, brauche die Menschheit „An interest to keep ist“, ein Interesse an der Weiterverwertung. Baupläne stellt Bezau auf der Homepage zur Verfügung.
http://www.plasticbottlevillage-theline.com/

Für die Übergangsphase bis zum Verbot schlägt er die Konstruktion von eckigen Flaschen im Stil von Legobausteinen vor. Kinderleicht solle es möglich sein, dem Abfall Sinn zu geben.

 

Bezau mahnt die Politik an. Wenn es möglich war, dass BP nach dem Ölunfall Deepwater Horizon 2010 im Golf von Mexiko 60 Milliarden Dollar Entschädigung zahlen musste, müsse man die Produzenten für die verursachten Schäden durch Einwegplastik gleichfalls belangen.

Weitere Informationen

Eine aktuelle Reportage zum Projekt
Timo Reuter, Konstruktive Lösung In: TAZ 27.01.2018
http://www.taz.de/!5375033/

Ein sehenswertes Theaterstück im Mainzer Staatstheater
Der siebte Kontinent- Eine Reise zur größten Mülldeponie der Welt
https://www.youtube.com/watch?v=qH51rtAlWDI

Ein aktueller Blogbeitrag zum Plastikmüll in und um Panama
https://www.coplare.de/coplare/coplares-beobachtungen/plastikmüll-in-und-um-panama/

8 Staaten Zentralamerikas und der Karibik verbieten ab dem 1. Januar 2019 den Import und die Herstellung von Einwegplastik und Polysterol
https://amerika21.de/2019/01/220064/plastik-karibik-kolumbien-verbot

Ein Thema auch für Ludwigshafen
https://www.basf.com/global/de/media/news-releases/2019/01/p-19-109.html

Weltweit Müll fotografieren, per App die Bilder an die Produzenten senden
https://www.litterati.org/

Tsirushka mit feministischem Biss

Der öffentliche Bus holpert über eine teilasphaltierte Straße und spuckt uns um 11:00 Uhr in Shiroles aus. Das Straßendorf hat keinen erkennbaren Ortskern. Der Schweiß rinnt angesichts der tropischen Schwüle. Frente al colegio, gegenüber der Schule befindet sich das Tor zur Frauenkooperative Tsirushka, übersetzt Kakaocreme.

Im Talamanca- Gebirge leben viele BriBri als Kakaoproduzent_innen in kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Die Kooperative fördert den organischen Anbau. Sie bietet ca. 75 Frauen und ihren Familien Arbeitsmöglichkeiten und ein gesichertes Einkommen. 4 Frauen arbeiten Vollzeit in der Produktion vielfältiger Schokoladenprodukte.

Gelingt es, die kulturelle Tradition der Indigenen zu bewahren? ACOMUITA, ein Interessensverband indigener Frauen ergriff 2003 die Initiative zur Gründung der Kooperative.

Beim Überraschungsbesuch der Blauen Murmel steht die Kakaomühle still. Die Mitarbeiterinnen genießen einen Ausgleichstag für die geleistete Samstagsarbeit, klärt uns Präsidentin Faustina Torres auf. Sie führt uns durch die Räumlichkeiten. „El Cacao es feminino, der Kakao ist weiblich“, betont sie.

In der Mythologie der BriBri verwandelte Gott Sibö die junge Frau Tsirú in einen Baum, der duftende und köstliche Früchte trägt, den Kakaobaum. Für Faustina scheint in der Kakaobranche wichtig, dass sich die Frauen ihrer matrilinearen Kultur erinnern und sich behaupten. „Nosotras, wir Frauen geben das Leben. Der Name der Frau wird an die Nachfahren vererbt, die Frauen besitzen die Landtitel. Das patriarchalische Erbe der spanischen Eroberung brauchen wir nicht. Für uns sind Männer und Frauen gleich. Macht über andere auszuüben gehört nicht in unsere Kultur, wir Frauen pflegen den Respekt“.

Die Kooperative produziert monatlich ca. 300 Kilo Kakaoprodukte. Faustina lässt uns bittere Schokoladenstreusel kosten. Der offizielle Flyer der Kooperative fasst die süßen Wirkungen des Naturproduktes zusammen:
Kakao fördert die Blutzirkulation, regt an, macht glücklich und wirkt als homöopathisches Mittel gegen Depressionen. Kakao verzögert die Alterung der Zellen und enthält zahlreiche Vitamine. Kakaobutter schützt die Haut.

Als Verantwortliche fühlt sich Faustina kompetent. „Ich kenne beide Welten. Ich baue selbst Kakao an und organisiere die Verarbeitung sowie den Vertrieb für die Kooperative.“ Erst durch unsere Nachfrage geht sie auf das Thema Klimawandel ein. Pilzerkrankungen, Starkregen und Trockenperioden nähmen zu. Sie liebt die Pflanzen, die wie einst in biologischer Vielfalt gedeihen sollen.

Mit Sorgen blickt Faustina auf die nachwachsende Generation. „Es gibt hier viele Suizide junger Menschen. Die Jungen fühlen eine große Leere in sich, ihnen fehlt die Verbindung zur BriBri- Kultur. Schwierig, wenn Eltern nicht präsent sind. Natürlich beeinflussen auch die neuen Technologien sowie der Alkohol- und Drogenkonsum das Verhalten. Das staatliche Projekt „Casita de eschucha“, Häuschen zum Hören“, nimmt sich dem Problem an. Sozialarbeiter und Psychologen arbeiten gemeinsam mit der Kommune, um junge Menschen aufzufangen.“

Auf die Kooperative wurden wir in einem Café in Puerto Viejo aufmerksam.
Kanadier_innen bieten u.a. Führungen auf Schokoladenfarmen an.
Kunden erhalten an der Verkaufstheke Hinweise zu den Produzent_innen nachhaltiger Schokolade.

Die gut gestaltete Homepage der Kooperative Tsirushka fiel uns auf:

https://acomuita-costarica.jimdo.com/deutsch/unsere-firma-tsirushka/

Was uns bewegt

Eine Atempause: Als 60plus- Rucksacktouristen reisen wir durch Lateinamerika und Afrika. Der Übergang ins Rentnerdasein und ein Sabbatical schenken uns die Freiheit, unterwegs zu sein.

Die Unruhe: Mit Wanderschuhen sitzen wir im Transatlantikflug. Um die extremen Folgen des Klimawandels zu dokumentieren, nehmen wir weite Wege auf uns. Gleichzeitig dürstet im Oktober 2018 vor unseren Augen der Rhein.

Die Bescheidenheit: Eine andere Welt ist möglich, vom zivilgesellschaftlichen Engagement in den Ländern des Südens lernen wir. Europa stellt sich nicht ausreichend der globalen Verantwortung.

Die Berührungspunkte: Mit den Menschen aus dem globalen Süden teilen wir die Sehnsucht, die Globalisierung gerecht zu gestalten.

Die unbändige Lebenslust: Wir freuen uns, alte und neue Freundschaften zu pflegen, in fremde Sprachen und Kulturen einzutauchen, durch den Regenwald zu streifen, in Ozeanen zu baden, die Fauna in Afrika zu erleben, die Welt in ihrer Schönheit aufzusaugen.

Unsere Reise als Selbstversuch: Wir ringen um Balance. Können wir uns vor Ort einlassen und gleichzeitig fortkommen? Reisen wir nah bei den Menschen auf der Pritsche des Kleinlastwagens oder mittels Kreditkarte im klimatisierten Überlandbus? Beschränkt sich unser leichtes Gepäck auf das Lebensnotwendige oder haben wir bloß schwupps digital aufgerüstet? Sind wir für neue Erfahrungen offen oder bleiben wir in uns vertrauten Theorien verhaftet? Lassen wir andere an unseren Erfahrungen teilhaben oder nicht? Gelingt es uns, den Menschen aus dem Süden eine Stimme zu geben oder bedienen wir über kitschige Bilder und banale Anekdoten eurozentristische Klischees?

P.S. Während Ebi eure Rückmeldungen in der Kommentarfunktion gerne beantwortet, lese ich spannende Romane auf meinem neuen E-Reader und übe mich mit Wonne an Gedichten:

Gradwanderung

Runder Erdball, ich flaniere
nord-und südwärts, balanciere
buchstabierend auf dem Grade
Augenblicke, Skizzen wage
in der Schwebe, Bilder atmend
wächst Atlas, mein Romanfragment.