Sand klebt in den Rucksackritzen. Auf die Netzhaut und Kamarachips wurden tausend Bilder gebrannt. Reich an wunderbaren Begegnungen und teils bedrückt vom Zustand der Erde ziehen wir um.
Bei unserer Landung in Madrid liegen 5 Monate hinter uns. Adiós Lateinamerika, Afrika winkt.
Eingeschoben wird ein Familientreffen in Andalusien, ein Wiedersehen mit den Liebsten, eine Verschnaufpause für die blaue Murmel in vertrauten europäischen Gefilden.
Mit Rückenwind dauerte der Flug von Bogotá aus Anfang März nur 7 Stunden. Nah bleibt Lateinamerika sowieso an vielen andalusischen Stätten.
Während wir durch Sevilla radeln, bestaunen wir prächtige Kirchen und Paläste. Großzügig angelegte Straßenzüge prägen die Stadt, gebaut aus Gold und Silber der Conquista.
Ähnlich präsentiert sich die Hafenstadt Cadíz, wenngleich sie sich auf ein Halbinselchen zwängt und Salzwasserluft an den Gemäuern nagt.
Stets wehen schroffe Winde, die jahrhundertelang die Armen Andalusiens übers Meer bliesen, Non-Stop gen Kolumbien. Wir strecken die Hände ins überraschend kühle Wasser. An der Karibikküste bot uns der gleiche Atlantik vor Kurzem noch aufgeheiztes Badewasser.
Angekommen in Conil de la Frontera führt uns Mario durch das Viertel der Fischer. 27 seien geblieben. Die Gentrifizierung tobt. Dem weißen spanischen Städtchen ergeht es nicht anders als Cartagena an der Karibik. Über AirnB wird Wohnraum beschleunigt umgewidmet, beschädigt wird die soziale Struktur, wenn ausländische Investoren Einheimische verdrängen, Feriendomizile dominieren.
Der Tourismus ersetzt tradierte Fangnetze. Dramatisch dezimieren sich die Fischbestände an allen Küsten des Atlantiks. Im Boom 2018 überschwemmten 80 Millionen Tourist_innen Spanien, ungeachtet des bedenklich knappen Wasserreservoirs.
Nur Reisende aus der Subsahara hält man auf.
In Tarifa am südlichsten Punkt Europa thront Spaniens größtes Abschiebegefängnis.
Die gigantische Festung wird von der unruhigen See umspült. Wo Atlantik und Mittelmeer am äußersten Zipfel Europas zusammenstoßen, vibriert und torkelt die See. Die bloße Vorstellung, in Nussschalen über die raue See zu schippern, lässt uns erschaudern. Dabei gilt die Meerenge seit 2018 als Hauptroute angesichts der inhumanen europäischen Migrationspolitik.
Mehr Verzweiflung als Mut treibt Menschen trotz der gefährlichen Strömung zum Aufbruch nach Europa an. Wie Ikarus mögen die später Inhaftierten vom Fliegen träumen, gescheitert an 7 km der Meerenge von Gibraltar. Sorg- und ahnungslos erproben sich nebenan der Gefängnisburg Touristen im Kite-Surfing am Strand.
Das andere Gesicht Spaniens: Die Zivilgesellschaft engagiert sich. Ansprechende Grafftiti mahnen am Hafen von Tarifa.
Für März angekündigt werden ein afrikanisches Filmfestival, eine Demonstration vor dem Abschiebegefängnis, die Kritik der NGOs, dass Marokko ähnlich wie Libyen von der EU eingespannt wird.
Im Hafen von Tarifa liegt die Salvamento Maritimo zur Seenotrettung, an der Ausfahrt behindert.
http://www.salvamentomaritimo.es/# (aufgerufen am 22.3.2019)
Dennoch lässt sich im grünen andalusischen Frühling wunderbar wandern, dem Wind trotzend stapfen wir über den Küstenweg entlang der EU- Außengrenze, den Blick auf das marokkanische Rifgebirge am Horizont, den Zwiespalt im Bauch. Ach Europa, deine Menschenrechte, seufzt die blaue Murmel allerorts.
Unser Zuhause auf der iberischen Halbinsel: Ein großer Familientisch steht im Appartement, wir genießen es, gemeinsam zu kochen, entspannt spazieren wir über die kilometerlangen Sandstrände, sogar in der Nacht, frotzeln herrlich, lachen, diskutieren angeregt und vertraulich.
Wir freuen uns, auch Ana und Kristina von der Asociación Pro Derechos Humanos de Andalucia APDHA wiederzusehen. Vor 2 Jahren lernten wir die Mitarbeiterinnen der Menschenrechtsorganisation auf dem Open Ohr- Festival in Mainz kennen. Ausgetauscht werden Gemeinsamkeiten, die wir teilen: Kristinas Unterricht an Schulen, um demokratisches Handeln zu fördern, Rassismus abzubauen; Anas Engagement für eine humanitäre Flüchtlingspolitik, das Alarmtelefon hat Ana stets angeschaltet; die Anklage der EU- politischen und ökonomischen Verhältnisse.
https://www.apdha.org/
„Que no te confundan“, lass dich nicht verwirren- lautet die aktuelle Kampagne von APDHA wider den Rechtspopulismus und mediale Hetzkampagnen. „Knochensucher“ titulierte im März 2019 ein Abgeordneter der VOX die Menschen, die sich um die Aufarbeitung der Diktatur bemühen. 40 Jahre jung ist Spaniens Demokratie. „In den Familien wird bis heute geschwiegen. Meine Oma sagt, sie wisse nicht, was mit ihrem Bruder während des Bürgerkriegs geschah“, berichtet Kristina.
VOX, die spanische Partei der Neuen Rechten regiert seit 2018 Andalusien indirekt mit. Denn die Regierungskoalition aus der konservativen Partido Popular (PP) und Ciudadanos ist auf ihre die Stimmen angewiesen. Anders als in Deutschland scheint die Presse überwiegend Argumente der Konservativen und Rechtspopulisten widerzuspiegeln. Der demokratischen Opposition und den Nichtregierungsorganisationen werden wenig Zeilen und Sendezeiten in den Kanälen eingeräumt. Sie bleiben weitgehend auf soziale Netzwerke angewiesen. Um die nach 4 Dekaden abgewählte sozialdemokratische Regierungspartei PSOE ist es derzeit eher still.
Die Katalonienfrage überlagert öffentliche Debatten.
Über die Situation der Menschen im elften Jahr der Wirtschaftskrise erfahren wir wenig aus Zeitungen, gleichwohl aber in den Gesprächen. Ein Psychologe mit 3 Masterabschlüssen kellnert für 5, 50 € im Restaurant. Ein Ingenieur lebt vom ökologischen Gemüseanbau im eigenen Gärtchen, 45 Jahre alt absolviert er nebenbei ein Studium der Betriebswirtschaft ohne konkrete Aussicht auf Anstellung. Erwachsene ziehen bei den Eltern wieder ein, weil bezahlbarer Wohnraum fehlt. „Die Menschen in Katalonien haben das Recht selbst über die Unabhängigkeit von Spanien zu entscheiden“, hören wir in Gesprächen. „Jedoch sorgen wir uns, dass ein elitärer Staat entsteht.“
In Algecira endet unser der Transitaufenthalt, die Gradwanderung wird fortgesetzt. Im gigantisch großen Hafenbecken ankern Container- und Personenschiffe aus Afrika, Amerika und Asien.
Nach Tanger- Med in Marokko treiben wir am 23. März auf einer Giga-Fähre. Denn für kleinere Boote bleibt die Ausfahrt bis auf Weiteres untersagt. Es stürmt, während die blaue Murmel Kurs auf Afrika nimmt.
Weiterlesen
Henn, Marian (2018), Wollen sie eine Mauer ins Meer bauen? Mobilität, Repression und Widerstand im spanisch-marokanischen Grenzraum.
In: Matices. Heft 95. 3/2018
Urban, Thomas (2018), Aufgewühlt- wie Spanien mit der „afrikanischen Welle“ umgeht
https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-spanien-tarifa-1.4081149
(aufgerufen am 25.03.2019)