Venezuela in Kolumbien

Die Grenze zu Venezuela liegt nur ca. 2 Stunden von Santa Marta entfernt. Kolumbianische Bürger_innen wie venezolanische Geflüchtete und Arbeitsmigrant_innen halten gleichermaßen den Atem an, wir auch. Die Tageszeitungen widmen der Situation im Nachbarland ganzseitige Artikel. Gebannt blicken die Menschen auf den Bildschirm.

Bleibt Maduro an der Regierung? Wird die Venezuela- Krise weiter eskalieren? Entzündet sich in Kürze ein Bürgerkrieg? Kommt es zur militärischen Intervention?

Die Zündhölzer:
Ein selbst ernannter Interimspräsident.
Die eilige internationale Anerkennung desselben durch mehr als 50 Staaten, einschließlich Deutschlands.
Die Bündnispolitik der USA mit rechtskonservativen Regierungen wie Argentinien, Brasilien, Kolumbien.
US- amerikanische Lebensmittellieferungen, die als politisches Druckmittel eingesetzt wurden und mit dem Impetus der inneren Einmischung verteilt werden sollten, nicht als neutrale humanitäre Hilfe.
Ein brandgefährliches Konzert am 22. Februar.
Provokationen am Grenzübergang. In der Nachbereitung Kontroversen über die Zahl der Opfer, die wahren Vorfälle, mediale Inszenierungen. Ungeklärt scheint, wer die beiden Lastwagen mit den amerikanischen Gütern in Brand setzte.

Kolumbien zeigt sich als treuer Bündnispartner der USA zunehmend in die Auseinandersetzungen involviert. Kritische Kommentatoren glauben, die außenpolitische Krise komme für den kolumbianischen Staatspräsidenten Duque gelegen, um von der Innenpolitik abzulenken. Die Schlagzeilen der Tagespresse befassen sich mit Venezuela, nicht mit der Wiederbewaffung der Paramilitärs, der forcierten Abholzung des Regenwaldes, dem ausgebremsten Friedensprozess in Kolumbien.

Die blaue Murmel überlässt es den Beobachtern vor Ort an der Grenze und in Venezuela, die Lage zu analysieren. Hier finden sich differenzierte Recherchen und Hintergrundinformationen:

 

 

Guaido spielt ein gefährliches Spiel. In: TAZ 24.02.2019
http://www.taz.de/!5572341/ (aufgerufen am 25.02.2019)

Was die USA tun, hilft nur Maduro. In: http://www.n-tv.de 25.02.2019
https://www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Was-die-USA-tun-hilft-nur-Maduro-article20873641.html (aufgerufen am 25.02.2019)

Ein Podcast zu Venezuela vom 27.02.2019, u.a. ein Kommentar zur umstrittenen Anerkennung des selbsternannten Interimspräsidenten durch Deutschland  und ein Interview zur aktuellen Situation
https://www.npla.de/podcast/onda-info-454/(aufgerufen am 27.02.2019)

Eine Analyse zur politischen Entwicklung in Venezuela
https://www.medico.de/gegen-die-eigene-verfassung-17080/
(aufgerufen am 15.02.2019)

Unterwegs in Kolumbien treffen wir auf viele Venezulaner_innen, die die Grenze überquerten, um die dramatische Lebenssituation für sich und ihre Familien zu verbessern. Die Inflation in Venezuela beträgt zurzeit 1.000.000 %.

Angeblich verfügen viele Venezolaner_innen, die derzeit aufgrund der Krise flüchten, über keinen Pass. Dadurch wird ihnen in Kolumbien eine Registrierung und die Arbeitserlaubnis erschwert. Die Menschen  leben sichtbar auf der Straße. Straßenhändler verkaufen Arepa, Kaffee oder Süßigkeiten.

Einige betteln und erwarten in der aufgeheizten politischen Situation Solidarität. Maduro sei wie Hitler. Andere verweisen auf die gravierenden ökonomischen Probleme im Land und trauern der Regierung unter Hugo Chavez nach.

Unterhalb jeglichen Mindestlohns bieten sich Gelegenheiten zur Schwarzarbeit in der Landwirtschaft, in der Baubranche, in der Gastronomie. Frauen harren tagsüber mit ihren Kindern in den Parks und auf den Bürgersteigen aus.

Die Not ist allgegenwärtig. Frauen-oftmals auch Minderjährige – bieten sexuelle Dienste an.

 

Die Mehrheit unserer kolumbianischen Gesprächspartner_innen zeigte durchaus Verständnis und Anteilnahme. Über Jahrzehnte hinweg lebten viele selbst aus politischen und wirtschaftlichen Gründen im Ausland, z. B. in Ecuador, Peru und zu guten Zeiten im einst ölboomenden Venezuela. Zugleich lässt sich eine Verunsicherung ob der Armutszuwanderung spüren. Der stete Verdacht lautet, die Kriminalität habe zugenommen. Nicht zuletzt schürt die Sensationspresse Ressentiments.

Die Bürger_innen haben Angst. Man muss etwas tun“, erläutert uns frühmorgens eine leitende Mitarbeiterin des Sozialamtes von Santa Marta. Aufgrund der Nähe zur Grenze seien in den letzten beiden Jahren sehr viele Menschen in Santa Marta gestrandet. „Jetzt starten wir gezielt Programme-
die Legalisierung des Aufenthalts, der Gesundheitsscheck, die Vermittlung einer Bleibe. Ein Auffangzentrum wurde von der Sozialverwaltung eingerichtet.

Die Leiterin des Programms äußert zugleich ihre Skepsis „Das Vertrauen in staatliche Behörden fehlt. Viele ziehen es vor, in der Illegalität zu bleiben, auch wenn sie damit in jeder Hinsicht sehr gefährdet sind. Dies gilt insbesondere für die jungen Frauen und alleinerziehende Mütter.“

Die offiziellen Zahlen variieren: Zwischen 1,3 bis 3 Millionen emigrierten in den letzten Jahren. Welche Zahl auch stimmt, die Lebensgeschichten ähneln. Die prekäre Lage der Venezolaner, die  vormals in gesicherten ökonomischen Verhältnissen lebten, spiegeln sich in  folgenden Interviewauszügen wider.  

Ein Fahrradtaxifahrer erzählt: „Ich war Restaurantbesitzer in der Hauptstadt Caracas. Die staatliche Bürokratie machte mir viele Auflagen, die ich nicht erfüllen konnte. Das Restaurant musste ich schließen. Seit einem halben Jahr lebe ich in Kolumbien. Leider wird mein Universitätsabschluss als Programmierer in Kolumbien nicht anerkannt. Jetzt versuche ich mit dem Taxi meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Meine Frau ist hier, unsere Kinder Kinder von 16 und 18 Jahren sind noch in Caracas, sie besuchen die Schule und die Universität.“

Als eine Frau Bauarbeiter und uns mit frischen Kaffee versorgt, sagt sie bekümmert: „Eigentlich bin ich Ingenieurin. Seit einem Jahr ziehe ich als Kaffeeverkäuferin durch Kolumbien. Seit Kurzem ist auch meine Mutter hier. Von dem Geld, dass ich in zwei Wochen in Venezuela verdiente, konnte ich nicht mal die Lebensmittel für einen einzigen Tag kaufen.“

Den 26-jährigen Jonathan  lernen wir in einem Hostal kennen und schätzen. Er verließ Venezuela vor 6 Monaten und  erzählt uns ausführlich seine Geschichte.

„Ich ließ meine Frau und meine beiden Kinder in Caracas zurück. Angesichts der ungeheuren Inflation konnte ich sie nicht mehr ernähren. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Ich war zwölf, in Straßen verkaufte ich Kuchen. Die Regierung unter Chavez unterstützte die Armen mit vielen guten Programmen. Ich beendete die Schule und schloss mein Informatikstudium ab. Meine Arbeit als Programmierer in der Nationalbank war gut bezahlt. Wir konnten uns ein kleines Haus leisten. Nach dem Tod von Chavez 2013 ging es im Land steil bergab. Wenn mein Gehalt ausgezahlt wurde, reichte es wegen der Inflation kaum mehr für den Reis. Darum habe ich meinen Job gekündigt und mich auf den Weg nach Kolumbien gemacht. Übrigens, von den ehemals 3300 Mitarbeitern der Nationalbank arbeiten heute nur noch ungefähr 1400 dort aus den gleichen Gründen.

In Santa Marta lebte ich auf der Straße. Ich verbrachte die Nächte an einer Tankstelle. Ich kann keine Arbeitserlaubnis beantragen. Von Venezolanern wurden mir vor der Grenze mein Pass, meine Arbeitsnachweise und mein Smartphone gestohlen. Ich war einige Wochen hier in der Kaffeeernte. Das Geld, was ich verdiene, schicke ich meiner Familie. Einmal die Woche telefoniere ich mit ihnen, aber es bricht mir fast das Herz.

Sobald ich etwas Geld habe, gehe ich zurück nach Caracas, um meine Söhne von 5 und 7 Jahren zu sehen. Sie sind den ganzen Tag mit der Mutter zuhause. Ihre Schule ist geschlossen, viele andere Schulen auch, weil die Lehrkräfte weggehen. So viele Kinder und Jugendliche verbringen jetzt Tage ohne Aufsicht auf den Straßen von Caracas. Und Caracas war schon zuvor die drittgefährlichste Stadt der Welt.
Ich will so schnell wie möglich nach Hause fahren, um einen neuen Pass zu beantragen. Der Staat befindet sich immer mehr in Auflösung und vieles funktioniert nur über Bestechung. Natürlich hoffe ich, später endlich legal in Kolumbien zu arbeiten. Die Busfahrt von Caracas nach Santa Marta dauert ungefähr 2 Tage.
Jetzt ist die Kaffeeernte vorbei, ein Hostalbesitzer gibt mir ein Dach über dem Kopf und Essen. Hier jobbe ich und lerne viel. Z. B. verbessere ich mein Englisch. Ich bin sehr dankbar, dass sie mir eine Arbeitsgelegenheit geben.“

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

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