Seit vier Jahren pendelt die Grundschullehrerin Laura zur Arbeit ins 45 km entfernte Dorf Orika. Schon sonntags lässt sie die Familie in Cartagena zurück. Der Unterricht beginnt auf der Isla Grande am Montag früh um 7 Uhr. Vor Sonnenaufgang nehmen die Wassertaxis keine Passagiere auf. Salzwasserduschen sind bei der Überfahrt in den kleinen Booten inbegriffen. Die heftigen Brisen vor Cartagenas Küste wechseln je nach Jahreszeit nur die Nord-Südrichtung.
Unter der Woche wohnt Laura mit 13 Kolleg_innen in einem Häuschen auf dem Schulgelände. „Jetzt schlafe ich endlich unten“, sagt sie erleichtert seufzend, als sie uns die Etagenbetten im fensterlosen Kämmerchen zeigt. Das Kollegium lebe hier in guter Gemeinschaft. Niemand habe Angehörige auf der Insel.
Das Erziehungsministerium versetzt Grund- und Sekundarschullehrer auf Zeit in ländliche Regionen. Im Flur droht ein Regal unter didaktischen Materialien zusammenzubrechen. Unter dem schattigen Kapokbaum tagt gerade eine Lehrerkonferenz.
Die Frage, ob Laura sich selbst um die Stelle im Koralleninselparadies Isla Grande, dem Archipel El Rosario zugehörig, beworben habe, beantwortet sie ausweichend.
„In meiner Klasse unterrichte ich 16 Kinder in allen Fächern, in der Stadt wären es bis zu 45. Und um die 16 Kinder muss ich kämpfen, Eltern zuhause besuchen und sie überzeugen, ihre Kinder zur Schule schicken. Viele Eltern können kaum lesen und schreiben. Bildung hat für sie keinen Wert. Ohne Aufsicht lernen die Kinder zuhause nicht. Ab 18:00 Uhr ist es eh dunkel. Die meisten Häuser verfügen über kein elektrisches Licht. In meinen ersten vier Wochen an der Schule habe ich nur geheult.
Jetzt sehe ich die Fortschritte. In den kleinen Klassen können wir uns individuell um die Kinder kümmern. Das macht sie stark für das Leben, selbst wenn wir nur 50 Prozent des Curriculums erfüllen können.“
Zwei kommunale Kindergärten sollen vorab die Vorschulerziehung leisten.
Erzieherin Natalie, staatlich angestellt, begleitet vormittags allein bis zu 22 Kleinkinder, da ihre Kollegin Mutterschutz genießt. Manchmal hilft ein Elternteil mit. Vielleicht sei es nicht schlecht, dass die Kinder nur unregelmäßig kommen. Überhaupt bleibe wenig Zeit, um die Farben und Zahlen zu lernen, die Feinmotorik zu trainieren.
Die Kinder würden zumindest beaufsichtigt und beköstigt durch die eigens angestellte Köchin. „Wir wünschen uns einen Solarkühlschrank“, antwortet Natalie, befragt nach den dringlichen Problemen der Einrichtung.
In der Grundschule werden die Unterrichtsräume morgens von der Grundschule und nachmittags von der Sekundarschule genutzt.
Der erfolgreiche Abschluss der elften Klasse verleiht das Bachillerato, die Hochschulreife. „Immerhin 40 Prozent der Absolvent_innen beginnen anschließend auf dem Festland eine Ausbildung oder einige sogar ein Studium. Die anderen bleiben auf der Insel und jobben. Zu viele brechen die Schule vorzeitig ab. Gelegenheiten, Geld zu verdienen, bietet die Insel dank des Tourismus zur Genüge.“
Und: „Im letzten Schuljahr wurden wiederum 2 Minderjährige schwanger, trotz aller Präventionsarbeit externer Sozialpädagog_innen.“
Die Mittagshitze drückt. Nach Schulschluss sind 7 Kinder im Klassenraum verblieben. Laura lässt ihnen Zeit, die Aufgaben vom Whiteboard zu notieren und Verständnisfragen zu klären.
Die Nachbereitung des Spanischunterrichtes: Eine Fabel handelt von einer ambitionierten Wasserschildkröte, die den Zugvögeln gleich in den Süden fliegen will.
Trotz der schlechten Bezahlung habe sie sich für den Beruf entschieden, um Kinder zu fördern, Armutsfallen entgegenzuwirken, erzählt uns Laura.
„Ich war 21 Jahre alt, als man mich für eine soziologische Studie in die Außenbezirke Cartagenas sandte. Was für ein Schock. Nie zuvor war ich so unmittelbar mit der extremen Armut konfrontiert. In den darauffolgenden Monaten habe ich dort eine Kleiderkammer aufgebaut. Heute will ich, dass Kinder Kolumbiens Bildung erfahren, um ihr Leben in die Hand nehmen.“
Schützt Lauras Lebenserfahrung vor dem Ausbrennen, ihr erst später beruflicher Einstieg in den Lehrberuf? Als Schulsekretärin und Mutter zweier Söhne ließ sich berufsbegleitend zur Grundschullehrerin ausbilden. „Zuvor arbeite ich über 17 Jahre im Sekretariat einer Militärschule. Dort herrschte ein ganz anderer Ton.“
Die blaue Murmel fragt Laura nach ihren Empfehlungen an das Erziehungsministerium. Sie gäbe den Lehrkräften stärkere pädagogische Freiräume.
„Die ständigen Überprüfungen und Evaluationen rauben viel Energie. Außerdem braucht es für die Insel ein eigenes Curriculum, das an die Lebenswelt der Kinder angepasst ist. Bislang unterrichten wir nach einem einheitlichen Lehrplan für ganz Kolumbien.“
Statt mit dem Gong verlassen an diesem Vormittag die letzten Schulkinder den Raum mit herzlichen Umarmungen und Küsschen. Sie haben die Lehrerin gewiss sehr gern.
Laura ist im Boot – auch im übertragenen Sinne. Denn sie engagiert sich für die Zukunft der Dorfgemeinschaft auf der Isla Grande, einer ganz besonderen Insel.
Vor 5 Jahren übergab die Regierung endlich die Landtitel an die Afrodesciendientes, die Nachfahren der Sklaven, die seit 200 Jahren die kleine Insel bewohnen und ein ökologisches und nachhaltiges Tourismuskonzept auf den Weg brachten.
Freitags nimmt das Boot Laura zurück aufs Festland. Im kommenden Schuljahr darf sie die Insel verlassen, versprach das Ministerium. Immerhin sind ihre Söhne gerade mal 11 und 15 Jahre alt.