4. März 2019, ein Montag. Stadteinwärts gen Bogotá. Erster Versuch, sich in der Megacity zurechtzufinden. Gastgeberin Titi begleitet uns. Grundkurs zu den Transmilenium- Buslinien. Gelenkbusse auf eigenen Spuren, kaum befriedigender U-Bahn- Ersatz für 8 Millionen Menschen. Ruckelnde Transportkäfige, die durch den dichten Verkehr schlingern. Krampfhaftes Bemühen um einen festen Halt.
Lärmteppich. Bedrückend viele Venezulaner im Bus, die mit Megafonstimmen an ihre prekäre Lebenssituation erinnern.
Benedetti-Gedichte, Nueva Cancion, HipHop, Bonbons im Angebot. Apathische Kleinkinder. Verunsicherte, betroffene Fahrgäste, die wegschauen oder ermüdet Münzen hervorkramen.
Smog. Luftqualität vor allem im armen Süden horrend schlecht.
Immerhin beeindruckendes Radwegenetz, schon ca. 500 km durch die Stadt. Trendwende erkennbar.
https://www.zeit.de/mobilitaet/2018-03/bogota-kolumbien-radfahrer-ciclopaseo-strassenverkehr-luftqualitaet (aufgerufen am 07.03.2019)
Untrainiert wagten wir uns nicht auf Drahteseln durch den dichten Verkehr. Leichte Kopfschmerzen auf 2640 Metern Höhe.
Nach 90 Minuten der Ausstieg. Titis Arbeitsplatz im Stadtviertel La Cabrera. Banken, Geschäfte, gepflegte Wohntürme, Grünanlagen. Das wohlhabende Bogotá. Erste Klasse. Fühlen uns auf dem Morgenspaziergang wie im Frankfurter Westend. Titi biegt ab. „Hasta luego, bis später“.
Plötzliche Lücken. Die Sonne wagt sich durch den Smogdunst. Bergketten am Horizont sichtbar. Wir nehmen im Straßencafe Platz, wärmen uns auf. Lesen. El Tiempo, Kolumbiens überregionale liberale Tageszeitung. Und frieren. 11.699 Opfer zwischen 1990 und Januar 2019 durch Anti-Personenminen.
https://www.nzz.ch/international/minenraeumung-in-kolumbien-das-grosse-aufraeumen-ld.137411
(aufrufen am 07.03.2019)
Christoph Harnisch, Leiter des Internationalen Roten Kreuzes in Kolumbien im Interview. Die Zahl der Vertreibungen hat im Vergleich zu 2017 um 90 Prozent zugenommen.
http://www.fluchtgrund.de/2017/01/kolumbien-69-millionen-vertriebene-auch-wegen-kokaanbau/(aufgerufen am 07.03.2019)
https://www.heise.de/tp/features/Kolumbien-Totgeschwiegener-Massenmord-4326484.html (aufgerufen am 07.03.2019)
Urplötzlich begrüßt uns ein galanter älterer Herr mit sonorer Stimme, drei Bücher unter den Arm geklemmt. „Bienvenidos en Colombia. Ustedes están invitados, yo pago la cuenta.“
Wir lernen Don Benjamín, den ehemaligen kolumbianischen Konsul von Hamburg kennen. Benjamín Ardilo Duarte, Jurist, Romanist, führendes Mitglied der Academia Colombiana de la Lengua, der Akademie für die Sprache.
Er habe den gleichen Frisör wie der kolumbianische Staatspräsident. Nein, dessen Freund sei er nicht. Nun lasse er dem Frisör eine Kolumne von García Márquez zukommen. Über die absolute Vertrauensstellung der Zunft. Immerhin sitzt das Barbiermesser am Hals des Regierungsführers. Doch wie gut, der Präsident hört auf dem Stuhl, was das Volk denkt.
Wir trinken Wasser. Don Benjamín sprudelt. Springt zu den Anfängen. Zu den ersten Deutschen in Kolumbien. Viele Literaturtipps. Germán Arciniegas, El Papel de los Alemanes en la Conquista, über die Rolle der Deutschen während der Eroberung Kolumbiens.
Ach, Humboldt. Alexanders Spuren in Kolumbien.
Erster Karthograph des Rio Magdalena.
Humboldts Drängen auf die Einführung der Loren in den Salzbergwerken von Zapaquirá, um die Sklavenarbeit zu beenden.
Verboten erst 1851.
Humboldt schrieb im Originaltext auf Französisch. Einziges Büchlein auf Spanisch, ein Kompendium über die Botanik Kolumbiens. 25 Prozent der aufgeführten Pflanzen landeten im Export. Früchte. Blumen für den Valentinstag.
Humboldt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Paris. Ermutigt die lateinamerikanischen Exiliierten. Seine Botschaft nach 5 Jahren Südamerika, der Kontinent sei reif für die Unabhängigkeit.
Don Benjamíns Salto rückwärts. Landet wie eingangs beim Menschenfreund des 21. Jahrhundert. García Márquez. Die Popularität. Menschen in der Schlange am Zeitungskiosk. Der phänomenale Bericht eines Schiffbrüchigen erschien wöchentlich, in der Tageszeitung portioniert.
Gabos universale Themen.
Gabo als Autor der Karibenos. Gabo wie andere Musiker, Maler, Bildhauer, Schriftsteller, Dichter der Karibikküste, die den tiefen Rassismus zwischen den Hochland- und Tieflandbewohnern verkleinern konnten.
Eingeschobene Anekdoten.
Gabos Talente seien frühzeitig erkannt worden:
„Ein neuer Cervantes, schade dass er Caribeno ist. “
„Lest Gabos, wenn ihr Kolumbien verstehen wollt“, Don Benjamins letzte Empfehlung zum Abschied. Eigentlich hat nur der Handkuss gefehlt.
Wir ziehen weiter durch Parkanlagen Richtung Stadtzentrum. Männer liegen ausgestreckt auf dem Rasen. Obdachlose? Venezolanische Geflüchtete?
Reiben uns die Augen. Aha, die Männer tragen in Arbeitskleidung. Siesta der Bauarbeiter. Immer wieder der wichtige zweite und dritte Blick auf die Zustände.
Erschöpfte Rückkehr nach Hause in unser Dachjuche, Chia liegt am nördlichen Stadtrand. Kleine Panikattacke, als wir uns zum Ausstieg durch den Bus boxen müssen. Wie mühsam für die Berufspendler_innen tagtäglich.
Wollen Humboldt nachlesen, angestiftet durch die Begegnung mit Don Benjamin. epub download Andrea Wulf (2016), Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur. München. Geöffnet.
„Sie krochen auf allen vieren einen hohen, schmalen Grat entlang, der an manchen Stellen nur fünf Zentimeter breit war. Der Pfad, wenn man ihn so nennen konnte, war voller Sand und loser Steine…“.
Weltendecker Humboldt vor 200 Jahren scheute keine Mühen. Unser Gejammer über die drangvolle Enge im Stadtbus Bogotás verstummt. Wie leicht lässt sich im 21. Jahrhundert die blaue Murmel erkunden.