Die im Dunklen sieht man nicht

Die blaue Murmel rollt gen Colon, der kleine arme Bruder der Hauptstadt. Am Atlantikhafen des Kanals leben ca. 90.000 Einwohner_innen, darunter viele Menschen afrokaribischer Herkunft. Ihre Vorfahren waren Sklaven und Wanderarbeiter im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Für den Bau der Eisenbahn und des Kanals wurden Menschen von den Antillen und aus Jamaica zwangsrekrutiert.

Ankunft

Schon an der Busstation begegnet uns „die andere Welt“ Panamas: Gewusel, hektisches Geschrei. Schrillbunte surreal anmutende Busse hupen, Müll schwimmt in großflächigen Wasserpfützen. Die Orientierung fällt schwer. Zum Glück liegt das Hotel „Internacional“ nur wenige Meter vom Terminal entfernt.

Der erste Stadtspaziergang schockiert. Wir stolpern durch das heruntergekommene Stadtzentrum mit zahlreichen Ruinen und Leerstand. Menschen leben in tristen Notunterkünften, Müll pflastert die Straßen.

Im Vorfeld riet man uns ab, Colon zu besichtigen, eine der gefährlichsten Städte der Welt, hieß es in den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Eine Taxifahrerin schüttelte eher gelassen und nur verwundert den Kopf über das Reiseziel. „In Colon gibt es nichts zu besichtigen. Einzig die Fahrt in die Freihandelszone zum günstigen Einkauf lohnt. Nie im Leben übernachte ich dort.

In der Tat treffen wir auf keine Touristen. In Forschungslaune spüren wir der Stadtgeschichte und dem Imageproblem Colons nach. Die einst reiche Hafenstadt übernahm in der jüngsten Geschichte Panamas eine Sonderrolle.

Die USA gliederten 1950 Colon aus dem Protektorat der Kanalzone aus. Gleichzeitig wurde die Stadt zur Freihandelszone erklärt. Die Regierung in Panama Stadt investierte kaum ins kulturell afrokaribisch geprägte Colon. Dass Colon die weltweit zweitgrößte Freihandelszone nach Honkong beherbergt, spiegelt sich nicht im Stadtzentrum wider.

Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung bestätigt: „Colon wurde auf den Hafen und die Freihandelszone reduziert. Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen und historisch gesehen waren sie immer die Sklaven bzw. der Nachfahren der Sklaven.

Aus Sicht der mestizisch-weißen Oberschicht tragen die Congos, ehemalige Sklaven wesentlich zum Problem bei. Mit „ihrer laxen Arbeitsmoral“ verweigerten sie sich der Modernität und dem kapitalistischen Arbeitsethos.

Dabei ist der dramatische Niedergang eng mit dem Aufkommen der Containerfrachtschiffe in den 60er Jahren verbunden. Die Arbeitsplätze gingen verloren. Offizielle Statistiken weisen 40 Prozent Arbeitslosigkeit und die extreme Armut an der Karibikküste aus.

Das historische Stadtzentrum in unmittelbarer Nähe zum Hafen erscheint uns als großstädtisches Slumviertel. Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter spielen Domino, stehen für Lotterielose an, sitzen in Grüppchen abwartend am Straßenrand. Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen betteln.
Wie kommen sie ohne eine Sozialversicherung und Transferleistungen über die Runden?

Abends

Unser Hotel wird von kubanischen Händler_innen okkupiert. In der Lobby befindet sich eine Waage. Plastikfolien warten, um die eingekauften Waren für den Transport nach Kuba zu präparieren. Harter und zuweilen lauter kubanischer Slang tönt über die Flure. Reger Telefonverkehr verwandelt das Treppenhaus in ein Callcenter. Über Mobiltelefone halten die Handelsreisenden regen Kontakt zur Familie auf Kuba.

Nach 20.00 Uhr ist das historische Stadtviertel leergefegt. Gespenstische Ruhe kehrt ein. Traut sich niemand auf die Straße? Vereinzelte Nachtschwärmer, Obdachlose, Taxifahrer, ambulante Verkäufer, Bettler und Prostituierte schwirren durch das Viertel. Mangels Alternativen gerät der chinesische Minimarkt um die Ecke zum Hotspot. Er bietet rund um die Uhr kalte Getränke feil.

Parkende Autos werden in eigens dafür vorgesehen Zonen von einem Sicherheitsdienst rund um die Uhr bewacht. Eine Polizeistreife fragt mich verwundert, was ich in Colon suche und ob alles in Ordnung sei.

Am nächsten Morgen

Elisabeth bleibt im Hotel, um einen Blogartikel zu verfassen und sich den deprimierenden Eindruck der Stadt ersparen. Ich mache mich auf den Weg, will mir ein zweites Bild von dieser verstörenden Stadt verschaffen. Sie erinnert mich an Port-au- Prince auf meiner Reise nach Haiti 1982.

Bei dem improvisierten Streifzug stelle ich fest, dass außerhalb des historischen Stadtzentrums die Lebensbedingungen zum Glück augenscheinlich bessere sind. Ein geschäftiger und betriebsamer Alltag wird wahrnehmbar.

Mit den Bewohner_innen komme ich nur mühsam ins Gespräch. Ein gewisses Misstrauen ist spürbar. Und das sprachliche Gemisch aus spanisch, englisch und patois bleibt schwer verständlich.

Erfreulicherweise sind auf den zweiten Blick auch im desaströsen historischen Zentrum Baumaßnahmen im Gange. Unterstützt durch die Weltbank starteten soeben großflächige Sanierungsprojekte insbesondere im Bereich Kanalisation und Häusersanierung.

Aus Sicht meiner Gesprächspartner_innen entzünden sich Konflikte, weil die Menschen für die Dauer der Sanierung in Randbezirken außerhalb untergebracht werden. Dies führe zu Verweigerung. „Die Menschen sind hier sehr eigen“. So kann man das Ergebnis von jahrzehntelanger Versklavung, Ausgrenzung und Rassismus auch interpretieren.



Abreise

Der Bus streift stadtauswärts eine Werbetafel, die ein neues Colon als Vision formuliert. Wir diskutieren unsere Zweifel.

Kann die Sanierung gelingen, solange die Menschen wirtschaftlich, kulturell und sozial ausgegrenzt sind?

Autor: blauemurmel

Elisabeth Henn & Ebi Wolf 55294 Bodenheim

Ein Gedanke zu „Die im Dunklen sieht man nicht“

  1. Hi ud buonas tardes – je diffiziler und widersprüchlicher Eure Reise, desto spannender die Berichte. In Colon hätte mich wahrscheinlich der Mut verlassen, auch geschuldet eher rudimentären Spanischkenntnissen… Schließlich haben wir schon in El Paso kurz vor der Grenze zu Mexiko schon mal Angst vor Mördern gehabt – die sich am nächsten Morgen als gaffeeschlürfende Sachsen rausstellten, die wie wir auch nachts den Campground nicht mehr erreicht hatten. Ihr geht schon bewundernswert mit der jeweiligen Situation um, alle Achtung. Vielleicht wird das ja doch noch mal was mit Außenminister; aber Vorsicht vor Airbus 340 – der Bundespräside sitzt in Äthiopien fest hoffentlich nicht im Kochtopf…. Liebe Grüße aus dem verschneiten St. Eimel – Martin

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